Über die Ermittlung der Reproduktionszahl von Covid-19 durch das Robert-Koch-Institut

Vorbemerkung der Redaktion: Dieses Blog beschäftigt sich üblicherweise mit dem Klimawandel und der Energiewende. Angesichts der enormen Auswirkungen der COVID-19-Krise auf die Gesellschaft machen wir heute eine Ausnahme. Eine seriöse Auswertung und Interpretation von Daten spielt auch beim Thema Corona eine große Rolle, was es letztendlich dann doch mit der Klimadebatte verbindet.

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Von Frank Bosse

Am 27.4.2020 erschrak Deutschland: Das RKI schätzte die Reproduktionszahl R auf 1 in seinem täglichen Lagebericht. Es war sofort ein Brennpunktthema in allen Medien, denn die Zahl sagt aus: Die Fallzahlen reduzieren sich nicht, sie stagnieren. Obwohl alle Quellen ein Sinken der gemeldeten Fälle anzeigten, kam das RKI zu einem anderen Schluss. Wie geht das? Bestandteil der Ermittlung der aktuellen R ist ein frisch eingeführter „Nowcast“, vom RKI als „statistisches Verfahren, das über Wochen entwickelt wurde“ beschrieben. Es hat zum Ziel, die tatsächliche Infektionszahl des aktuellen Tages zu bestimmen. Die wird in den gemeldeten Fallzahlen  tatsächlich nicht abgebildet. Denn: zwischen Infektion und Meldung vergeht im Mittel ca. 1 Woche, erst dann stellen sich Symptome ein, die zu einem Test und der Meldung führen. Über die aktuelle Infektionslage gibt es daher eine erhebliche Unschärfe, die mit dem „Nowcast“ verringert werden soll.

Soweit so gut. Nichtsdestotrotz wunderten sich einige, wie sinkende Fallzahlen und R=1 zusammen passten. Es wurde unterstellt, dass das RKI politisch motivierte Fallzahlen veröffentlicht. Am 29.4. erschien dann ein neuer Bericht des RKI, und der staunenden Öffentlichkeit wurde nun ein R-Wert von 0,75 präsentiert. Das löste nun wirklich Verwunderung aus, denn auf einmal sollten 100 Infizierte nicht mehr 100 gesunde anstecken, sondern nur noch 75. Das bedeutet nämlich: Die Epidemie trocknet ein und verliert über die Zeit ihre Kraft. Es wären gute Nachrichten. Nur wie kann sich die Zahl R innerhalb von zwei Tagen derart verändern? Das RKI veröffentlicht stets eine Graphik, die alle Komponenten der Schätzung zeigt. Die, mit der R=0,75 ermittelt wurde, sieht so aus:

Im Gegensatz dazu hier die, mit der R=1 ermittelt wurde:

Die dunkelblauen und grauen Säulen sind die bekannten Fälle, die hellblauen Säulen spiegeln den Eintrag durch den „Nowcast“ des RKI wieder. Nur er unterscheidet die beiden Graphiken vom 29.4. und 28.4. der Berichte. Über die genaue Erzeugung der Zahlen dafür gibt es keine Information.

Auf der Pressekonferenz des RKI am 30.4. gab es naturgemäß Fragen zur den doch gewaltigen Unterschieden in den Angaben der Reproduktionszahl. Ab Minute 44 geht der Chef des RKI Prof. Wieler darauf ein, allerdings sichtlich genervt und zu diesem Thema kurz angebunden. Auf eine weitere Nachfrage übergibt er das Wort an einen Mitarbeiter (Min.45), der erklärt, dass die „Nowcast“-Zahlen nun mehr „anders geglättet“ verwendet würden, was die Unterschiede erklären sollte. Allerdings wirkt seine Präsentation nicht gerade überzeugend, vor der Erwähnung des Schlüsselwortes „Glättung“ holte er tief Luft und drehte die Augen wie hilfesuchend nach oben, hier ein Standfoto der Szene aus dem Video:

Daher interessierte ich mich für die Entstehung und „Glättung“ des Nowcast-Anteils in den Diagrammen oben. Es gibt im Internet hilfreiche kostenlose Tools, die es ermöglichen, aus höher aufgelösten Graphiken die Zahlen zurück zu gewinnen, ich benutzte dieses. Ergebnis: Die täglichen Zahlen für den „Nowcast“ entstehen mit 95% Sicherheit durch eine lineare Gleichung:

Auf der Abszisse ist die Summe der gemeldeten Fälle abgetragen (graue plus dunkelblaue Säulen in den Diagrammen oben) auf der y-Achse der sich ergebende hinzuzufügende „Nowcast“. Die geringe Streuung entsteht durch die unvermeidlichen kleinen Fehler bei der Digitalisierung. Gezeigt ist der Graph für die sich ergebende R=0,75. Das also ist in Wahrheit das „über Monate entwickelte Tool“, so RKI. Eine einfache lineare Gleichung! Was hatte sich an dem „Nowcast“ zwischen dem 27.4. und danach geändert? Das erhellt dieses Diagramm:

Tatsächlich hat das RKI die Zahlen nicht „anders geglättet“, man hat sie wohl schlicht mit etwa 2/3 multipliziert, und das war es dann auch. Als die einfache lineare Gleichung am 27.4. zu hohe Werte für die Reproduktionszahl  ergab, deren Berechnung man tatsächlich nicht änderte, reduzierte man einfach die „Nowcast“- Zahlen um 1/3. So konnte Prof. Wieler diesen Teil tatsächlich mit fester Stimme verkünden. Das Flunkern überließ er einem Mitarbeiter des Hauses, der sich sichtlich unwohl dabei fühlte, als er eine einfache Reduktion um 1/3 als „Glättung“ bezeichnen musste. Mit sehr einfachen Mitteln kann so das RKI die berühmte R-Zahl so gestalten, wie es das für richtig hält. Mit Wissenschaft hat das wohl nicht viel zu tun?

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