Interview mit Rainer Thiel (SPD): „Mir bereitet die Energiewende große Sorge.“

Das folgende Interview von Holger Douglas mit Rainer Christian Thiel  – seit 2012 Mitglied des Landtages NRW – erschien am 17. Oktober 2016 auf der Webseite des Deutschen Arbeitgeberverbandes. Abdruck im Kalte-Sonne-Blog mit Genehmigung des Verbandes:

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Holger Douglas: Rainer Thiel; SPD, kritisiert die deutsche Energiepolitik heftig. Warum?

Rainer Thiel: Die „deutsche Energiewende“ vernachlässigt die Prinzipien der Nachhaltigkeit, nachdem zwischen wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Belangen ein Gleichgewicht hergestellt werden soll. Tatsächlich wurde Klimaschutz zum beherrschenden Thema, dem alle anderen Ziele untergeordnet werden. Die Themen Wirtschaftlichkeit und soziale Auswirkungen finden kaum statt. Nehmen sie nur das EEG, das dem Ausbau erneuerbarer Energien einseitig Vorrang einräumt. Das hat gravierende Auswirkungen auf unsere Wirtschaft und massive Umverteilungswirkungen im sozialen Bereich.

Holger Douglas: Niemand fragt richtig, ob auch alle Bürger die drastisch gestiegenen Strompreise bezahlen können. Welche Erfahrungen haben Sie gemacht?

Rainer Thiel: Wir haben in Deutschland die zweithöchsten Energiepreise in Europa mit ca. 0,30€ / KWh. Für eine drei köpfige Familie mit 3.500 KWh macht das eine Stromrechnung von ca. 1050 Euro im Jahr aus. Der größte Posten ist die EEG Umlage. Sie beträgt 223€ plus 42€ Mehrwertsteuer, also 265€. Insgesamt kommen so derzeit 23,1 Milliarden Euro Subventionierung für die erneuerbaren Energien zusammen. Zu bezahlen von den ganz normalen Stromkunden. Das Institut der deutschen Wirtschaft geht in einer neuen Studie davon aus, das der Betrag bis 2025 auf jährlich 32,9 Milliarden Euro steigen könnte.

Die ständig steigenden Stromkosten nehmen auf Menschen mit wenig Einkommen kaum Rücksicht. Energiearmut ist ein zunehmendes Problem in unserer Gesellschaft. Menschen, die auf Sozialhilfe angewiesen sind oder an der Armutsgrenze leben, können steigende Energiepreise nur durch Verzicht bei Lebensmitteln, Kleidung oder Bildungs- und Gesundheitsausgaben zahlen. 2012 waren schon über 320.000 Haushalte von Stromsperren betroffen. Tendenz weiter steigend.

Holger Douglas: Immer mehr Flächen sollen für Windräder ausgewiesen werden. In Nordrhein-Westfalen soll bis zum Jahr 2020 über die Hälfte des Strombedarfs aus Windkraft kommen. Ein utopisches Ziel?

Rainer Thiel: Bis 2020 sollen in NRW 15% der Stromversorgung aus Windenergie kommen. Dafür ist ein Flächenbedarf von immerhin 54.000 ha vorgesehen. Das sind ca. 1,6% der Landesfläche. In Großstädten oder in der Nähe von Flugschneisen gibt es kaum Raum für Windkraftanlagen. Der Druck auf die Flächen im ländlichen Raum ist daher enorm. Man kann regelrecht von Flächenfraß reden. Bei Windkraftanlagen spielt das sonst so hochgehaltene Ziel des Flächensparens keine Rolle mehr. Auch der Artenschutz gerät unter die (Wind-)Räder. Zu Recht befürchten Naturschützer die Kannibalisierung des Naturschutzes durch die Energiewende. Es wird vernichtet, was eigentlich geschützt werden soll, und wir sind ja erst am Anfang.

Holger Douglas: Für Grevenbroich sollen 684 ha für Windkraftflächen bereitgestellt werden. Die Stadt zeichnet sich jetzt nicht wie zum Beispiel eine Insel in der Nordsee durch übermäßigen Windreichtum aus. Dennoch sollen fünf Prozent der Gemeindefläche damit zugekleistert werden. Ziemlich viel oder?

Rainer Thiel: Für Grevenbroich bedeutet die Umsetzung der Energiewende eine doppelte Belastung. Hier sind große Braunkohlekraftwerke und hier beginnt der Tagebau Garzweiler. Die Menschen leben in Nachbarschaft zu den Kraftwerken und Tagebauen. Viele finden dort gute Arbeits- und Ausbildungsplätze. Jetzt stehen diese Arbeitsplätze unter Druck und die Wertschöpfung vor Ort bricht weg.

Und nun soll ausgerechnet hier die massivste Ausweisung von Windkraftanlagen im ganzen Regierungsbezirk Düsseldorf erfolgen, ca. 5% der Stadtfläche soll Windkraftvorrangzone werden. Das würde das Landschaftsbild der „Landesgartenschau Stadt Grevenbroich“ zerstören.

Holger Douglas: Sichere Renditen von 7 – 8 Prozent für die Produzenten von Wind und Sonnenstrom – Strompreise so hoch wie nie. Was läuft schief?

Rainer Thiel: Die sicheren Renditen für Wind- und Solaranlagenbetreiber sind eine wichtige Ursache für hohe Strompreise. Hier findet die größte staatlich veranlasste Umverteilung innerhalb der Bevölkerung statt, die es in Deutschland jemals gab. Das Jahresvolumen von 23,1 Milliarden Euro überwiegt sogar den Länder-Finanz-Ausgleich. Über lange Zeiträume müssen private Stromkunden anderen privaten Geldanlegern Renditen garantieren, von denen alle anderen nur träumen können.

Das wird zwar mit dem Klimaschutz begründet, aber sozial betrachtet ist das völlig daneben. Mieter in Ballungsräumen wie in NRW müssen ja schon hohe Mieten zahlen und werden so zusätzlich belastet. Andere, die genug verdienen, um in Wind und Sonne zu investieren oder sich die Anlagen aufs eigene Dach schrauben lassen, werden zusätzlich belohnt. Sie bekommen selbst dann ihre Vergütung, wenn ihre Anlagen wegen eines Überangebots von Wind- oder Sonnenenergie abgeriegelt werden müssen. Das ist doch irre!

Holger Douglas: Wie wirken sich denn die im Vergleich zu unseren Nachbarländern extrem hohen Energiekosten auf die Unternehmen aus?

Rainer Thiel: Eine Studie aus den USA (IHS) kommt zu dem Ergebnis, dass alleine von 2008 bis 2013 Deutschland bereits ca. 52 Milliarden Euro Nettoexportverluste hinnehmen musste, wegen der im internationalen Vergleich stärker gestiegenen Industriestrompreise. Hinzu kommen Sorgen um die Versorgungssicherheit und unsichere Rahmenbedingungen der Energiepolitik. Betriebsräte aus großen Unternehmen sagen mir, dass Investitionen ausbleiben oder an andere Standorte mit niedrigeren Stromkosten verlagert werden.

Die andere Seite der Medaille ist, dass die Vorrangeinspeisung von Wind- und Sonnenenergie zu Ramschpreisen die Börsenpreise so unter Druck setzen, dass konventionelle Kraftwerke kein Geld mehr verdienen können. Viele moderne Gaskraftwerke sind schon aus dem Markt gedrängt worden. Milliarden Investitionen wurden vernichtet. Das betrifft besonders unsere Stadtwerke. Insgesamt werden hier viele gute Arbeitsplätze gefährdet und vernichtet, sowie Vermögen der Städte entwertet.

Holger Douglas: Gerade in Ihrem Wahlkreis mit seiner großen Energiewirtschaft sowie Metall- und Chemieindustrie, die ebenfalls viel Energie verschlingen, sehen Sie die drastischen Folgen der Energiewende. Wie sehen sie aus und bereitet Ihnen diese Entwicklung Sorgen?

Rainer Thiel: Mir bereitet die Energiewende, so wie sie gemacht wird, große Sorgen. Für unsere Metall- und Chemieindustrie ist neben bezahlbaren Strompreisen die Frage der Versorgungssicherheit mindestens genauso wichtig. Und die ist bei Wind- und Sonnenenergie noch lange nicht gegeben. Trotzdem wird ein gewaltiger Druck aufgebaut, Braunkohlekraftwerke möglichst schnell zu schließen. Manche Klimaaktivisten fühlen sich legitimiert, Gewalt gegen Menschen und Anlagen auszuüben. Andere überbieten sich geradezu mit immer neuen Kohleausstiegsplänen.

Wir sind hier ständig im Stress, Strukturbrüche zu verhindern. Unsere Region hat noch gute Industriestandorte, hier liegen die Grundlagen für die Wohlstandsfähigkeit unserer Gesellschaft. Sozialer Zusammenhalt, funktionierende Infrastruktur, Integrationsherausforderungen meistern, das geht doch nur, wenn unsere Wertschöpfungsketten nicht zerstört oder überstrapaziert werden.

Holger Douglas: Die Landschaft wird durch Tausende von Windrädern zerstört, auf den Dächern befinden sich Zehntausende von Solaranlagen. Dennoch spart Deutschland laut Statistik bisher noch kein einziges Gramm CO2 ein? Warum?

Rainer Thiel: Der CO2-Ausstoß ist in Deutschland seit 2009 nicht gesunken, trotz ständigen Zubaus erneuerbarer Energien. Installierte Leistung ist eben nicht zur Verfügung stehende Leistung. Darum haben wir heute zwei Kraftwerksparks, einen konventionellen, der dafür sorgt, dass unsere Gesellschaft nicht zusammenbricht, und einen aus erneuerbaren Energien. Kohle-, Gas- und Ölkraftwerke haben eine installierte Kraftwerksleistung von ca. 80 Gigawatt, und die stehen auch zur Verfügung. Sonne- und Windkraft kommen zusammen ebenfalls auf etwa 80 Gigawatt, die stehen aber nur gelegentlich und oft zu ungünstigen Zeiten zur Verfügung.

Einen Zustand ohne Strom kann unsere hochtechnisierte Gesellschaft nicht überstehen – denken Sie nur an Krankenhäuser, Telekommunikation, Tankstellen oder Schienenverkehr, ganz zu schweigen von unserer Industrie, oder Fahrstühlen in öffentlichen Gebäuden . Im Winter, wenn der Energiebedarf steigt, gibt es weniger Sonne und oft keinen Wind. Da werden sogar alte Ölkraftwerke in Österreich wieder hochgefahren, um Versorgungssicherheit zu gewährleisten.

Holger Douglas: Mittlerweile fordern auch Politiker, dass das Erneuerbare-Energien-Gesetz und Energiewende weg müssen. Wie sieht Ihre Position aus?

Rainer Thiel: Dass das EEG so nicht bleiben kann, ist längst vielen klar. Die Energiewende muss wieder auf die Füße gestellt werden. Das ökonomisch Sinnvolle und das technisch Machbare müssen gegenüber dem Wünschbaren wieder mehr Gewicht bekommen.

Die Erneuerbaren Energien werden langsam erwachsen, sie müssen Systemverantwortung übernehmen und sich dem Wettbewerb stellen.

Der weitere Ausbau muss mit dem Netzausbau abgestimmt werden. Die Kosten müssen endlich transparent dargestellt und gerecht verteilt werden. Diese Energiewende wurde ja nicht von den Stromkunden beauftragt.

Es macht keinen Sinn, Anreizsysteme zu fördern, deren Risiken andere tragen müssen. Ein Ausbau von Kapazitäten, die sich nur rechnen, wenn subventioniert wird, überfordert letztlich das gesamte System. Die physikalischen Grundlagen müssen geklärt werden. Das betrifft neben der offenen Frage der „Großspeicher“ auch Natur und Landschaft. Was bedeutet z.B. 100% erneuerbare Energien angesichts der geringen Energiedichte je Flächeneinheit für unsere Naturflächen, für Wälder und Tiere?

Holger Douglas: Was muss zunächst getan werden?

Rainer Thiel: Mich stört der erzieherische und oft moralisierende Unterton, mit dem ambitionierter Klimaschutz mit immer ehrgeizigeren Zielen vorangetrieben werden soll, verbunden mit Drohkulissen und Angstszenarien.

Die Risiken und Nebenwirkungen dieser Energiewende müssen ehrlich benannt werden. Da wünsche ich mir einen aufgeklärten demokratischen Diskurs. Klimaschutz ist wichtig. Soziale Gerechtigkeit aber auch.

Wir dürfen uns nicht dem Diktat der bloßen Zahl hingeben. Wenn wir bis 2030 z.B. 36 oder 38% CO2 einsparen, dann ist das Spitze in Europa. Dann muss wegen einer kaum seriös berechenbaren Lücke von 2-4% kein Strukturbruch erzwungen werden, der Arbeitsplätze und Wertschöpfung vernichtet. Oder z.B. ein Verbot von Verbrennungsmotoren ab 2030, wieder so ein symbolischer Meilenstein.

Holger Douglas: Sehen Sie langsam Mehrheiten für Ihre Position?

Rainer Thiel: Ich bin überzeugt, dass die Menschen schon genauer hinsehen als manche glauben. Natürlich wünschen wir uns alle Klimaschutz und eine möglichst gesunde Umwelt. Genauso wissen wir aber auch, dass wir in einer Industriegesellschaft leben und unsere Wohlstandsfähigkeit auch von Versorgungssicherheit abhängt. Ich sehe durchaus eine Mehrheit für eine Klimaschutz- und Energiewendepolitik mit Realitätssinn und Augenmaß.

Holger Douglas: Herzlichen Dank für das Gespräch!

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