Höhere Sterberaten in heißen Sommern – folgt daraus eine allgemein höhere Sterberate?

von Otto Glinzer

Zusammenfassung

Ausgehend vom Artikel „Increased ratio of summer to winter deaths due to climate warming in Australia“ [1] werden von Destatis publizierte deutsche Sterbefallzahlen (2016-2021) auf ihre Winter-Sommer-Saisonalität untersucht. Die Saisonalität, die im Winter in Deutschland zu ca. 50.000 mehr Sterbefällen als im Sommer führt, ist einem Trend zu höheren Sterbezahlen überlagert, der seine Ursache im immer höheren Anteil Über-80-Jähriger in Deutschland hat. Abweichungen (nach oben) der Sterbezahlen von Trend und Saisonalität sind im Sommer auf Hitzewellen und im Winter auf Grippewellen zurückzuführen. Die Sommer-zu-Winter-Verhältnisse der Sterbezahlen werden vor allem vom Ausmaß der winterlichen Grippewellen bestimmt. 52-Wochen-Sterbezahlen, die unter der Annahme berechnet werden, daß Tote durch Hitzewellen sowie durch Grippewellen komplett vermieden werden könnten, liegen 3,6 % unter den zu erwartenden mittleren Sterbezahlen, die man aus Bevölkerungsstruktur und Sterbewahrscheinlichkeiten berechnen kann.

Einleitung

Mors certa, hora incerta: Der Mensch ist sterblich, weiß aber nicht, wann er stirbt. Wenn er eine mögliche Todesursache übersteht, trifft ihn die nächste oder die übernächste. Sein Leben kann nicht „gerettet“ werden – es ist endlich.
Wie der „Kalte-Sonne-Blog“ am 17.5.2021 berichtete, haben australische Statistiker [1] ermittelt, daß die Sommer-Todeszahlen Über-55-Jähriger zwischen 1968 und 2018 relativ zu Winter-Todeszahlen von 73 % auf 83 % angestiegen sind. Die Ursache sehen sie in heißeren Sommern infolge des Klimawandels. Der Artikel enthält keinerlei Aussagen darüber, ob dieser Effekt die Sterbewahrscheinlichkeit der Über-55-Jährigen in Australien erhöht hat, oder ob es sich letztlich nur um eine statistische Verschiebung des Anteils verschiedener Todesursachen gehandelt hat.

Hinweis: Analog zum Unterschied zwischen dem tages- oder wochenbezogenen Wetter und dem Klima (Mittelwerte über 30 Jahre) geht es in diesem Artikel nicht um Einzelfälle, sondern um das Gesetz der großen Zahl: Die tatsächliche Häufigkeit eines Zufallsereignisses stabilisiert sich bei großen Zahlen in der Nähe der Wahrscheinlichkeit des Ereignisses. Daß dieses in einem Land mit 83 Millionen Einwohnern mit hoher Genauigkeit gilt, ist die Grundlage des Geschäftsmodells von Lebensversicherungen. In jedem einzelnen Fall muß man sich bemühen, Leben zu retten. Man kann jedoch nicht dagegen ankämpfen, daß ein bestimmtes Lebensalter mit einer bestimmten Sterbewahrscheinlichkeit verbunden ist.

Analyse deutscher Sterbefallzahlen 2016 – 2021

Anhand von Daten des statistischen Bundesamts [2,3] sollen deutsche Sterbezahlen und der Einfluß heißer Sommertage untersucht werden. Wöchentlich wird im Zusammenhang mit den Covid-19-Sterbefällen die folgende Grafik [2] publiziert:

Destatis hat diese Form der Darstellung gewählt, um die Saisonalität der Todesfallzahlen darzustel­len. Man sieht ein Minimum der Sterbefallzahlen im Sommer (um die 30. Kalenderwoche (KW)) und ein Maximum im Winter (um die 4. KW). Um mehr Einzelheiten sichtbar zu machen, wird das Bild über der Zeitachse neu gezeichnet:

In Abb. 1 wurde zusätzlich zu den Destatis-Daten der Zyklus explizit eingezeichnet, der im Destatis-Bild implizit sichtbar wird: Im Winter-Maximum sterben pro Woche mindestens ca. 3000 mehr Menschen als im Sommer-Minimum. Diese Schwingung ist einem Trend überlagert, der aufgrund des immer höheren Anteils Über-80-Jähriger in Deutschland die mittlere Wochensterbezahl von ca. 17.000 (2016) auf ca. 19.000 (2021) erhöht hat (siehe nächster Abschnitt).

Wenn die tatsächlichen Sterbezahlen erheblich von dem zyklischen Verlauf der mindestens erwarteten Sterbezahlen nach oben abweichen, liegen Sondereffekte vor: Hitzestreß im Sommer und Grippewellen im Winter. In Abb. 1 wurden diesen Sondereffekten Zahlen zugeordnet, indem die Fläche zwischen den tatsächlichen Sterbezahlen und dem Verlauf der Saisonalität bestimmt wurde.

Eine zur australischen Publikation [1] analoge Auswertung zeigt Tab. 1, die aus den Destatis-Daten [2] erstellt wurde. Sie umfaßt alle Altersklassen und nicht nur die Altersjahre 55+, denn die Sterbewahrscheinlichkeit Unter-55-Jähriger liegt unter 0,5 % (siehe Tab. 1 rechts), ist also zu vernachlässigen.

Man sieht Sommer-zu-Winter-Verhältnisse um 78 % in Jahren mit schweren Grippewellen (vgl. Abb. 1 und Abb. 2) und Sommer-zu-Winter-Verhältnisse um 87 % in Jahren mit leichten Grippewellen. Das heißt: Entscheidend für das Verhältnis sind die Grippewellen, nicht die vergleichsweise niedrigen (und fast jedes Jahr auftretenden) Sterbefallzahlen durch Temperaturen oberhalb von 35°. Winterliche Grippewellen werden in [1] zwar erwähnt, ihre Rolle für das Verhältnis der Sommer-zu-Winter-Sterbezahlen jedoch erstaunlicherweise nicht diskutiert.

Abb. 2 zeigt in Form von Halbjahres-Summen die Saisonalität der Sterbezahlen: Im Winterhalbjahr sterben in Deutschland regelmäßig unabhängig von Grippe- oder Hitzewellen 50.000 bis 60.000 mehr Menschen als im Sommerhalbjahr. Starke Grippewellen bzw. die 2. Covid-19-Welle haben in den Jahren seit 2016 diese Differenz noch einmal um 40.000 bis 50.000 pro Winterhalbjahr erhöht. Im Vergleich dazu sind die Effekte sommerlicher Hitze relativ klein.

Ermittlung von Sterberaten und des Trends der Wochensterbezahlen

Ein Vergleich der Sommer-Minima in Abb. 1 und Abb. 2 weist schon vom Augenschein her auf einen steigenden Trend hin, dessen Ursache die allmähliche Veränderung der deutschen Altersstruktur ist. Der Anteil der Über-80-Jährigen ist seit 2016 um über 1 Million angestiegen, wie Abb. 3 zeigt:

Mit den Sterbefallzahlen für 5-Jahres-Altersklassen [3] kann man durch Betrachtung von 52-Wochen-Summen berechnen, welcher Anteil dieser Altersklasse im Verlauf eines Jahres gestorben ist. Von der 52. Woche des Jahres 2016 an bis Ende April 2021 kann man 227 solcher 52-Wochen-Summen bilden, die jeweils die Summe des bis zum betrachteten Datum abgelaufenen Jahres darstellen, und bzgl. der Größe der Altersklasse in der Mitte der betrachteten 52 Wochen (vgl. Tab. 1) die Sterberate bestimmen.

Die in Abb. 4 dargestellten Sterberaten schwanken nicht zufällig um ihren Mittelwert, sondern es gibt Phasen erhöhter Sterblichkeit während der Grippewellen 2017 und 2018 sowie während der Covid-19-Welle sowie Phasen geringerer Sterblichkeit. Die durch die Standardabweichung ausgedrückte Schwankungsbreite beträgt relativ zur jeweiligen Sterberate 1,5 bis 3 %, im mit der Größe der Altersklassen gewichteten Mittel 2,2 %.

Abb. 5 zeigt einerseits, daß die in Abb. 4 angegebenen Sterberaten mit den aktuellen Destatis-Sterbetafeln kompatibel sind. Andererseits kann man aus dem in Abb. 5 dargestellten exponentiellen Zusammenhang zwischen Sterbealter x und Sterbewahrscheinlichkeit r(x) berechnen, daß die in Abb. 4 dargestellten Sterberaten zwischen ihren Minima und ihren Maxima weniger schwanken, als der Veränderung der Sterbewahrscheinlichkeit entspricht, die sich ergibt, wenn man 4 Monate jünger oder 4 Monate älter wäre: Bei σ = 3 % beträgt die Schwankung ±0,31 Jahre, also maximal 4 Monate.

Auf Basis der Kenntnis der zeitlichen Veränderung der Bevölkerungsstruktur (siehe Abb. 3) und der Sterberaten der einzelnen Altersklassen kann nun berechnet werden, welche mittleren 52-Wochen-Sterbezahlen zu erwarten sind:

Im linken Bild von Abb. 6 entsprechen die roten Punkte den von Destatis publizierten Sterbefall­zah­len der Kalenderjahre 2016-2020 [3]. Die hellblaue Kurve der 52-Wochen-Summen verbindet die Kalenderjahressummen mit Zwischenwerten, während die dunkelblaue Kurve zusätzlich die Annah­me abbildet, alle an oder mit Covid-19 Verstorbenen wären noch am Leben. Die grüne Kurve im linken Bild stellt die aus Altersstruktur und Sterberaten berechneten Erwartungswerte der 52-Wochen-Sterbezahl dar. Die hellblaue Kurve verläuft weitgehend innerhalb der beiden hellgrünen Schranken im Abstand der mittleren Standardabweichung (2,2 %) der Sterberaten.

Die hellviolette untere Schranke im linken Bild zeigt die 52-Wochen-Summen der minimal erwarteten (nur die Saisonalität abbildenden) Wochensterbezahlen aus dem rechten Bild. Die hellblaue 52-Wochen-Summen-Kurve läuft im linken Bild komplett oberhalb dieser Schranke, da die tatsächlichen Sterbezahlen im rechten Bild weit überwiegend auf oder oberhalb der Saisonalitäts-Kurve liegen. Im Abstand von +3,6 % wurde dunkelviolett eine der minimalen Schranke vergleichbare obere Schranke eingezeichnet. Die gesamte hellblaue Kurve der 52-Wochen-Sterbezahlsummen liegt innerhalb dieser beiden violetten Schranken. In immer größerem Maße unterhalb der unteren violetten Schranke liegt jedoch die dunkelblaue Kurve, die die Annahme abbildet, alle Covid-19-Toten hätten „gerettet“ werden können (vgl. [8]). Ende April 2021 beträgt der Abstand zur unteren (violetten) Schranke ca. 28.000. Um soviel liegt die dunkelblaue Covid-19-Kurve in Abb. 1 unterhalb der Saisonalitäts-Kurve. Zusammen mit den in Abb. 1 angegebenen Zahlen Covid-19-Verstorbener (1. Welle: 8.000, 2. Welle: 50.000) kommt man auf die Größenordnung der RKI-Angaben, die zur Zeit (Mai 2021) bei ca. 85.000 liegt.

Fazit

Die tatsächlich auftretenden jährlichen Sterbezahlen setzen sich aus 3 Anteilen zusammen:

  • Ungefähr 97 % sind von der Altersstruktur in Deutschland und den zugehörigen Sterbewahrscheinlichkeiten bestimmt
  • Die Saisonalität der Wochensterbezahlen beträgt ca. ±9 %, verschwindet jedoch, wenn man Jahressummen betrachtet. Infolge der Saisonalität sterben regelmäßig im Winterhalbjahr mindestens 50.000 Menschen mehr als im Sommerhalbjahr (siehe Abb. 2).
  • Die an den 97 % fehlenden Sterbefälle treten vor allem im Zusammenhang mit äußeren Ereignissen auf, wie die „Peaks“ in Abb. 1 verdeutlichen:
    – Im Sommer kann Hitzestreß chronische Gesundheitszustände wie Herz- und Nierenkrankheiten verschlimmern, insbesondere bei älteren Erwachsenen [1].
    – Im Winter treten mehr oder weniger schwere Grippewellen auf, die ebenfalls meist bei Älteren und Vorerkrankten zu tödlichen Atemwegserkrankungen führen (mit 7,5 % an dritter Stelle der Todesursachen in Deutschland; siehe [7]). Für Covid-19 macht die WHO eine entsprechende Aussage: „COVID-19 trifft ältere Menschen und Personen mit Vorerkrankungen am schwersten“ [9].

Würde man wirklich Leben retten, wenn man sehr heiße Sommertage und Grippewellen verhindern könnte? Wenn man bedenkt, daß die seit 2016 durch heiße Sommertage und Grippewellen verursach­ten Schwankungen der tatsächlichen Sterberaten nur einem Sterbealtersunterschied von ±4 Monaten entsprechen (siehe Abb. 5), ist das sehr zweifelhaft.

Bei gleichbleibenden Sterbewahrscheinlichkeiten würde ein Verhindern der winterlichen und sommerlichen Spitzen zu einer gleichmäßigen Verteilung der Todesfälle über der Zeitachse führen, so wie es die grüne Schwingung im rechten Diagramm von Abb. 6 unter der Annahme verdeutlicht, daß Kälte und Lichtmangel im Winter unabänderlich zu 50.000 mehr Toten als im Sommer führen. Aber ist es nicht andererseits zu erwarten, daß Menschen, die aufgrund von Alter oder Vorerkrankungen ohnehin anfällig sind, vermehrt dann sterben, wenn Streß in Form von Hitzewellen (im Sommer) oder Vitamin-D-Mangel und Infektionen (im Winter) hinzukommt? Die in Abb. 1 hervorgehobenen Sommerhitze- und Grippe-Peaks muß man daher vermutlich ebenso wie die zahlenmäßig bedeutsamere Saisonalität der Sterbefälle als Normalität ansehen.

Quellen

[1] The Conversation „More people die in winter than summer, but climate change may see this reverse“ 26.4.2021 https://doi.org/10.1111/1753-6405.13107
[2] Statistisches Bundesamt „Wöchentliche Sterbefallzahlen in Deutschland“ https://www.destatis.de/DE/Themen/Querschnitt/Corona/_Grafik/_Interaktiv/woechentliche-sterbefallzahlen-jahre.html
[3] Statistisches Bundesamt „Sterbefälle – Fallzahlen nach Tagen, Wochen, Monaten, Altersgruppen, Geschlecht und Bundesländern für Deutschland 2016 – 2021“ https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bevoelkerung/Sterbefaelle-Lebenserwartung/Tabellen/sonderauswertung-sterbefaelle.html
[4] Göran Kauermann et al. „Übersterblichkeit in Deutschland“ CoDAG-Bericht Nr. 6 vom 6.1.2021 des Lehrstuhls für Statistik und ihre Anwendungen in Wirtschafts- und Sozialwissenschaften der LMU München https://www.covid19.statistik.uni-muenchen.de/newsletter/index.html
[5] Destatis (Datenbank des Statistischen Bundesamtes) https://www-genesis.destatis.de/genesis/online#astructure
Bevölkerung nach Altersjahren:
> 1 > 12411 > 12411-0005 > Zeit: 2015, 2016, 2017, 2018, 2019 (jeweils 31.12.) > Altersjahre: alle (0 bis 85 und mehr) > Download als 12411-0005.xlsx
Bevölkerungsvorausberechnung:
> 1 > 12421 > 12421-0002 > Zeit: 2020, 2021 (jeweils 31.12.) > Bev-Variante 08 (geringe Steigung der Lebenserwartung) > männlich + weiblich > alle Altersjahre (0 bis 99) > Download als 12421-0002.xlsx
[6] DESTATIS Periodensterbetafel 2016/18
https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bevoelkerung/Sterbefaelle-Lebenserwartung/Publikationen/Downloads-Sterbefaelle/periodensterbetafel-erlaeuterung-5126203187004.pdf?__blob=publicationFile
[7] Statista „Verteilung der häufigsten Todesursachen in Deutschland im Jahr 2018“ https://de.statista.com/statistik/daten/studie/240/umfrage/verteilung-der-sterbefaelle-nach-todesursachen/
[8] Boris Palmer: „Wir retten möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären“ Welt 28.4.2020 https://www.welt.de/politik/deutschland/article207575263/Boris-Palmer-Retten-Menschen-die-in-halbem-Jahr-sowieso-tot-waeren.html
[9] WHO: „WHO erklärt COVID-19-Ausbruch zur Pandemie“ 12.3.2020 https://www.euro.who.int/de/health-topics/health-emergencies/coronavirus-covid-19/news/news/2020/3/who-announces-covid-19-outbreak-a-pandemic

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