Geht’s um CO2-Minderung oder eher um etwas anderes?

Von Dipl.-Phys. Ulrich Waas

Beim Ziel, bis 2050 oder gar schon 2045 die CO2-Emissionen entscheidend zu verringern, haben viele den Eindruck, dass dies ein extrem herausforderndes, wenn nicht unmögliches Unterfangen ist. Deshalb ist es nicht überraschend, dass auch in Deutschland zunehmend wieder die Frage gestellt wird, ob mit Kernenergie, z.B. mit dem Weiterbetrieb der noch laufenden KKW, die Chancen zum Erreichen des CO2-Ziels nicht merklich verbessert werden.

Diese Frage löst aber speziell in Deutschland regelmäßig ein Phänomen aus: Seit vielen Jahren wird dann jeweils ein ziemlich gleichbleibender Zirkel von Personen aktiv[1], die mit sich gegenseitig zitierenden Stellungnahmen und Presseverlautbarungen behaupten, selbst der Weiterbetrieb vorhandener KKW käme für die Verringerung von CO2-Emissionen nicht infrage, da dies den Ausbau der erneuerbaren Energien blockieren würde, außerdem sei ein Zubau von KKW zu teuer und zu langsam verfügbar, der Betrieb sei zu risikoreich und die Endlagerung sei nicht gelöst. Tatsächlich sind diese Behauptungen im Wesentlichen unzutreffend oder irreführend. Zu fünf häufig verwendeten Behauptungen hier einige Erläuterungen:

1-Falsche Behauptung: KKW trügen nicht zur Verringerung von CO2-Emissionen bei.

Man braucht nicht in die komplexen Argumentationskonstruktionen für diese Behauptung einzusteigen, um die Fehler zu finden – es reicht, die Realität wahrzunehmen: Der Blick über den „Tellerrand“ zeigt, dass Länder wie Frankreich und Schweden mit der Kombination Wasserkraft/Kernenergie in der CO2-Intensität der Stromerzeugung im Jahresmittel um den Faktor 5 bis 10 niedriger, also besser liegen als Deutschland. Auch beim Weltklimarat (IPCC) gibt es viele, die die Kernenergienutzung in diesem Zusammenhang für möglich und sinnvoll halten [IPCC, 2018: Summary for Policymakers, C.2.2]. Selbst in einer aktuellen Veröffentlichung gegen den Weiterbetrieb vorhandener KKW des DIW (Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung) findet sich folgendes Diagramm [1, Abb. 4]:

Nach der Rechnung in dem DIW-Papier wird der fehlende Strom bei Abschaltung der noch betriebenen KKW vorerst ausschließlich durch Strom aus Braunkohle, Steinkohle, Erdgas und Importe ausgeglichen. Damit steigen die CO2-Emissionen um mindestens 40 Millionen Tonnen pro Jahr. Das „Engpassmanagement“ nimmt ebenfalls zu, was zu entsprechend höheren Kosten und zu höheren Risiken für die Netzstabilität führt.

Das DIW schreibt dazu: Kurzfristig ist im Jahr 2022 und 2023 mit ansteigenden CO2­Emissionen aus dem Stromsektor zu rechnen, die mit einem beschleunigten Ausbau erneuerbarer Energien rasch zurückgeführt werden sollten. – Wie, bitte schön, soll das bis Ende 2023 gehen? – Z.B. über Speicherung? – Dazu eine einfache Überlegung: In diesem Jahr gab es mehrfach Wetterlagen mit „Dunkelflaute“ über etwa zehn Tage, also kaum Strom von Wind und Sonne. In dieser Zeit sind die verbliebenen KKW mit gut 8.000 MW Leistung praktisch voll durchgelaufen und lieferten rund 2 Milliarden kWh. Um diese Energiemenge in Phasen mit einem Überschuss an Wind- und Solarstrom zu speichern, bräuchte man z.B. sog. Großbatteriespeicher.

Davon gibt es z.Z. in Deutschland Prototypen auf Basis Lithium-Ionen-Technologie mit einer Gesamtkapazität, die vernachlässigbar ist gegenüber der für 2 Milliarden kWh benötigten Kapazität. Diese Speicher haben z.Z. noch Systemkosten (also mit Elektronik und Steuerung etc.) von über 500 €/kWh [2], d.h. für 2 Milliarden kWh Speicherkapazität würde man bei Investitionskosten von 1.000 Mrd. € landen, die in den nächsten zwei Jahren zusätzlich zum Zubau von Wind- und Solaranlagen aufzubringen wären! Selbst wenn die mittelfristig erhoffte Halbierung des Preises sofort einträte, wären es immer noch 500 Mrd. €. Und selbst wenn dieses Geld verfügbar wäre – wo auf der Welt gibt es Herstellungsfabriken mit ausreichender Kapazität, wo soll das Lithium in den benötigten Mengen herkommen und wie erhöhen sich die CO2-Emissionen, da die Herstellung recht energieintensiv ist?

Zu diesen Fragen gibt es in dem DIW-Papier keine nachvollziehbare Antwort. Der Eindruck drängt sich auf, dass hier mit „ungedeckten Schecks“ gearbeitet wird. In der Realität werden deshalb über etliche Jahre Braunkohlekraftwerke die abgeschalteten KKW ersetzen und jährlich 40 Millionen Tonnen CO2 zusätzlich emittieren. (Nur zur Veranschaulichung der Größenordnung: Der gesamte innerdeutsche Flugverkehr kommt auf gut 2 Millionen Tonnen pro Jahr.)

2-Falsche Behauptung: Wer Energiesparen und Erneuerbare Energien fördern wolle, müsse gegen Kernenergie sein.

Diese Behauptung wurde schon vor rund 40 Jahren entwickelt und wird noch heute von etlichen vertreten, angeblich weil der Weg zur Klimaneutralität erst mit der Abschaltung aller KKW möglich sein werde. Es wird von einer „Transformationsresistenz“ gesprochen, die durch KKW ausgelöst werde. Nachvollziehbare technische Gründe werden dafür allerdings nicht genannt, lediglich einige vermutete wirtschaftliche und psychologische Gründe. Vergessen wird dagegen, sich die Zusammenhänge in der Realität anzuschauen. Dort zeigt sich nämlich:

  • Seit den 1980er Jahren ist die Energieeffizienz („Energiesparen durch Technik“) ziemlich stetig angestiegen – unabhängig davon, welche Einstellung die jeweilige Bundesregierung zur Kernenergie hatte. Ein Zusammenhang mit Kernenergie ja/nein ergibt sich dadurch nicht.
  • Strom hat zwar einige Vorteile (vom Verbraucher vielseitig, emissionsfrei, gut steuerbar einzusetzen), aber er ist bezogen auf den Energieinhalt auch teuer im Vergleich zu fossilen Energieträgern. Strom braucht deshalb eine Nutzungstechnik mit hohem Wirkungsgrad, um konkurrenzfähig zu sein. Und das führt zu „Energiesparen“. Für Strom aus Wind und Sonne wird das in der gegenwärtigen Energiediskussion – richtigerweise – auch als Vorteil reklamiert – warum das dann nicht genauso für Strom aus Kernenergie gelten soll, ist unlogisch.
  • Auch die mantrahaft kolportierte Behauptung, KKW in Deutschland seien nicht flexibel genug, um sich an die Leistungsschwankungen von Strom aus Wind und Sonne anzupassen, und deshalb müssten Wind- und Solaranlagen unnötigerweise abgeschaltet werden, ist längst durch die Realität widerlegt [3]. Seit rund 15 Jahren werden KKW in Deutschland bei Bedarf im Lastwechselbetrieb gefahren. Da sie dabei die für eine Netzstabilisierung benötigte sog. Regelleistung liefern, die höher vergütet wird, rechnet sich das auch trotz geringerer Stromproduktion.
  • Unsinnig ist auch die ständig wiederholte Behauptung, durch Forschungsgelder für KKW in der Stromerzeugung sei die Entwicklung erneuerbarer Energiequellen blockiert worden. 2002 – also unter rot-grün – beantwortete die Bundesregierung eine Bundestagsanfrage hierzu so (Frage 27): „Subventionen für die kommerzielle Stromerzeugung aus Kernenergie gab es nicht. Allerdings wurde die Forschung auf dem Gebiet der Kernenergie durch öffentliche Mittel unterstützt.“ Bzgl. Forschungsgeldern zu KKW für die Stromerzeugung, also den Leichtwasserreaktoren (z.B. das Forschungsprogramm Reaktorsicherheit), wird in Antwort auf Frage 31 die Summe von etwa 0,56 Milliarden DM kumuliert bis 2002 genannt[2]. Diese Summe ist belanglos im Vergleich zu bisher rund 400 Milliarden € [4], mit denen die Nutzung von Wind- und Solarstrom seit 2000 gefördert wurde. (Diese Fakten halten allerdings Claudia Kemfert nicht davon ab, öffentlichkeitswirksam immer wieder die Beendigung von Subventionen für den Betrieb von KKW zu fordern.)

Insgesamt ist es sowohl technisch-wirtschaftlich als auch historisch falsch, einen Gegensatz zwischen einer maßvollen Kernenergienutzung einerseits und Energieeffizienz sowie Wind- und Solarstromanlagen andererseits zu postulieren. Diese falsche Behauptung schadet auch dem Ziel, CO2-Emissionen möglichst rasch zu reduzieren, wie das Beispiel Deutschlands in den letzten 20 Jahren eindrücklich zeigt: Wenn nämlich Ende 2022 die letzten KKW abgeschaltet werden, wird die bis dahin aufgebaute Kapazität von Wind und Sonne nur in etwa ausreichen[3], um die Jahresstromproduktion aus KKW im Jahr 2000 zu ersetzen, bei noch ziemlich unveränderter Stromerzeugung in fossilen Kraftwerken.

Es wäre auch wohl fatal für einen gemeinsamen EU-Kurs zu Klimaneutralität, wenn mit dieser Behauptung weiterhin versucht würde, andere EU-Länder auf dieses Dogma der „Transformationsresistenz“ einzuschwören, dasin Ländern wie z.B. Finnland, Frankreich, Schweden, Slowakei, Spanien, Tschechien und Ungarn mit Kopfschütteln gesehen wird. (Auch z.B. in China, Japan, USA, Indien, Russland, Großbritannien besteht mehrheitlich Unverständnis.)

3-Irreführende Behauptung: Wegen der langen Bauzeiten von KKW könnten diese nicht rechtzeitig zur Klimaneutralität beitragen, außerdem seien sie unwirtschaftlich gegenüber Wind und Solar.

Diese Behauptung beruht auf einer „selektiven“ Wahrnehmung: Unstreitig gibt es KKW-Projekte, die aus dem Terminplan und Kostenrahmen für die Errichtung erheblich rausgefallen sind. Aber ebenso unbestreitbar gab es in der Vergangenheit und gibt es noch heute KKW-Projekte, deren Errichtung in acht Jahren oder weniger und im Kostenrahmen ablief. Beispielsweise wurde in Deutschland das KKW Isar 2, eins der drei noch laufenden Konvoi-KKW, in den 1980er Jahren bereits 67 Monate nach Baubeginn übergeben (5 Monate weniger als erwartet), bei Kosten von 4,75 Mrd. DM (0,5 Mrd. weniger als erwartet). Und für aktuelle KKW-Neubauten in China und den Vereinigten Arabischen Emiraten (Bau durch südkoreanische Firma) werden Bauzeiten und Baukosten verschwiegen, da diese nicht zur gewünschten Aussage passen.

Ist es seriös, für eine Bewertung nur diejenigen Projekte zu nennen, die am schlechtesten laufen? (Das würde bei allen Energiequellen zu Problemen führen.) Sicher wäre eine Diskussion berechtigt, aus welchen Gründen bestimmte Projekte schlechter gelaufen sind und andere nicht, und was daraus zu lernen wäre. Aber dazu kommt nichts.

Bei Wirtschaftlichkeitsberechnungen gibt es viele „Stellschrauben“. Wenn bei Vergleichen die Stellschrauben unterschiedlich gedreht werden, lässt sich natürlich jedes gewünschte Ergebnis erreichen. Folgende gravierende Verzerrungen sind bei Vergleichen der Stromerzeugungskosten von interessierter Seite z.B. immer wieder festzustellen:

  • Berücksichtigung der benötigten Infrastruktur zwar für KKW (z.B. Endlager), für Wind/Sonne aber zum erheblichen Teil nicht (das ganze System zum Ausgleich der Leistungsschwankungen)
  • Vernachlässigung der gewaltigen Unterschiede bei direkten und indirekten Förderungen (s.o. 0,56 Mrd. DM gegen – bisher – 400 Mrd. €).
  • Verwendung einer von Kernenergiekritikern bei einem Leipziger Versicherungsunternehmen beauftragten Studie, die mit der fiktiven Annahme von häufig erfolgreichen Terroranschlägen auf KKW astronomische Versicherungsbeiträge berechnet (nach der dort angenommenen Häufigkeit hätte es statistisch weltweit schon 12 erfolgreiche Anschläge geben müssen, tatsächlich bisher keiner. Bei den gegen äußere Einwirkungen im Vergleich besonders gut geschützten KKW in Deutschland wäre das ohnehin unplausibel.)

Für Interessierte, die das detaillierter wissen wollen, kann auf eine Erläuterung zu den insgesamt unterschiedlich gedrehten „Stellschrauben“ verwiesen werden [5]. Dort wird eine Veröffentlichung der DIW-Arbeitsgruppe von Claudia Kemfert aus dem Jahre 2019 kritisch überprüft.

4-Behauptung mit unredlichen Argumenten: Die Kernenergie sei zu gefährlich.

Vorab: Formulierungen wie „Die Kernenergie ist gefährlich“ oder „Die Kernenergie ist sicher“ sind in ihrer Pauschalität ungeeignet, da sie weltweite Unterschiede in der Qualität von Sicherheitskonzepten, Errichtung und Betrieb vernachlässigen. – Bei anderen Technologien mit Unfallpotenzial, z.B. Verkehrsflugzeugen, Staudämmen, Chemieanlagen, ist es üblich, nach Unfällen in einem anderen Land nicht ungeprüft eine Abschaltung zu fordern, sondern zu überprüfen, ob die Ursachen auf die Situation in Deutschland übertragbar sind und dann ggf. Konsequenzen zu ziehen. Warum gilt das nicht für KKW?

Natürlich ist vor allem die Frage zum Risiko schwerer Unfälle legitim, da es weltweit in zwei KKW Unfälle mit „Erheblicher Freisetzung radioaktiver Stoffe mit weitreichenden Auswirkungen auf Mensch und Umwelt“[4] gegeben hat (Tschernobyl, Fukushima). Wie weit aber sind solche Ereignisse auf die Situation in Deutschland übertragbar?

Dazu hat die mit einer sicherheitstechnischen Überprüfung beauftragte Reaktor-Sicherheitskommission zum Unfall in Fukushima im Mai 2011 festgestellt:

„Unter Berücksichtigung der vorliegenden Informationen und des betrachteten Themenumfanges kann aufgrund dieser Überprüfung für die deutschen Atomkraftwerke anlagenunabhängig bei einem direkten Vergleich mit den Ursachen und Folgen der Unfälle in Fukushima I (Daiichi) festgestellt werden:

Initiierende Ereignisse, die zu derartigen Tsunami führen können, sind nach dem jetzigen Kenntnisstand für Deutschland ausgeschlossen. In Fukushima I lag eine zu geringe Auslegung der Anlagen gegen einen Tsunami mit einer auf Basis vorliegender Literatur zu betrachtenden Ereignishäufigkeit von circa 10-3/a (das heißt das Ereignis tritt im Durchschnitt einmal alle 1000 Jahre ein) vor. Im Bereich der naturbedingten Einwirkungen sind für deutsche Atomkraftwerke für Eintrittshäufigkeiten von 10-4/a für Erdbeben beziehungsweise 10-5/a für Hochwasser die nach dem Stand von Wissenschaft und Technik zu berücksichtigenden Einwirkungen durchgehend in der Auslegung berücksichtigt. Die Stromversorgung der deutschen Atomkraftwerke ist durchgehend robuster als in Fukushima I. Alle deutschen Anlagen haben mindestens eine zusätzlich gesicherte Einspeisung und mehr Notstromaggregate, wobei mindestens zwei davon gegen äußere Einwirkungen geschützt sind.“

Für die Bewertung des Unfalls in Tschernobyl gilt Ähnliches. Demnach ist eine Übertragbarkeit dieser Unfälle mit ihren Ursachen auf Anlagen in Deutschland nicht gegeben. Aber es bleiben sicher zwei Fragen:

  • Die Ursachen, die in Fukushima die Katastrophe möglich gemacht haben, waren keine Überraschungen. Das deutsche wie auch das internationale Regelwerk haben schon in den 1970/80er Jahren eindeutig eine andere Auslegung gefordert. Und mit dem Tsunami im indischen Ozean 2004 mit Überflutungen in indischen KKW war die Bedeutung eines ausreichenden Überflutungsschutzes nochmals deutlich geworden. In verschiedenen japanischen KKW hatte es deshalb auch Ertüchtigungen gegeben, auch in der Anlage Fukushima 2, die entscheidend dafür waren, dass dort eine Katastrophe vermieden werden konnte.

Aber warum war in Fukushima 1 der Überflutungsschutz bei der Errichtung unzureichend gewesen und warum hat es nicht wenigstens nach 2004 Ertüchtigungen gegeben? Wäre ein solches Fehlverhalten seitens Aufsichtsbehörde und Betreiber auf Deutschland übertragbar?

  • Wenn das Fukushima-Szenario oder auch das Tschernobyl-Szenario aus nachvollziehbaren Gründen nicht auf Anlagen in Deutschland übertragbar sind, kann jedoch noch gefragt werden: Wieweit ist Gewissheit gegeben, dass in der Auslegung nicht doch noch etwas übersehen wurde, an das man bisher nicht gedacht hat und das zu einem unkontrollierten Ablauf führen könnte?

Solche Fragen sind durchaus zu diskutieren, aber es sollte nicht eine pauschale Behauptung an die andere gereiht, sondern konkret begründet werden, warum aus Sicht der Kritiker das in Deutschland realisierte Sicherheitskonzept nicht ausreichend sein soll, gravierende Auswirkungen auf die Umgebung zuverlässig zu verhindern.

Eine kompakte Darstellung zu diesem Sicherheitskonzept ist im aktuellen Beck’schen Atomgesetzkommentar enthalten [6]. Unter Berücksichtigung des realisierten Sicherheitskonzepts kann die Nutzung der Kernenergie zur Verringerung der Risken aus einer starken Klimaveränderung als verantwortbar bezeichnet werden.

5-Falsche oder irreführende Behauptung: Die Endlagerung ist weltweit ungelöst.

Diese Behauptung wird in Deutschland häufig vertreten und wiedergegeben – in anderen Ländern ist sie wenig relevant. Im Wesentlichen wird sie in Deutschland damit begründet, ein Endlager für abgebrannten Kernbrennstoff sei weltweit noch immer nicht absehbar oder es entstünden Radionuklide, die wegen ihrer langen Halbwertszeit (HWZ) über „Millionen Jahre ein Risiko darstellten“.

Diese Aussagen sind jedoch falsch oder grob irreführend:

  • Ist weltweit kein Endlager absehbar?

Tatsächlich ist festzustellen: In Finnland ist ein Endlager für hochaktiven Abfall bereits bis zur vorgesehenen Tiefe abgeteuft, ebenso sind die horizontalen Tunnel gebohrt, von denen aus jetzt die Einlagerungskammern erschlossen werden, vor 2025 sollen abgebrannte Brennelemente eingelagert werden. Die Abwicklung des Projekts läuft glatt, die Standortgemeinde steht hinter dem Projekt, die Kosten liegen bisher bei etwa 2, 4 Mrd. €, also etwa bei einem Zehntel der bisherigen Ausgaben in Deutschland. Die Aussage ist also falsch.– Man kann sicher diskutieren, wer für die schlechtere Entwicklung in Deutschland verantwortlich ist. Aber hier – also beim Bohren von Tunneln oder Löchern in Granit – von „noch ungelöst“ zu sprechen, jedoch die Bewältigung des Speicherproblems in der Energiewende als „gelöst“ zu bezeichnen deutet auf sehr ungleiche Beurteilungsmaßstäbe hin. — Es wirkt auch nicht seriös, wenn in Diskussionen die in absehbarer Zeit vorgesehene Inbetriebnahme des Endlagers Onkalo in Finnland konsequent verschwiegen wird. Gleiches gilt für die These in [1], eine Endlagersuche sei erst nach Abschaltung aller KKW möglich – andere Länder (z.B. Finnland und Schweden) zeigen, dass es hierfür keine technisch-wirtschaftlichen Gründe gibt.

Wie ist das Risiko der vorgesehenen Endlagerung zu bewerten?

Bei Diskussionen zu Umweltbelastungen sollte man sich an dem orientieren, was die Natur vorgibt. So ist das Uran, mit dem der Kernspaltungsprozess betrieben wird, von Natur aus selber radioaktiv (Halbwertszeit/HWZ von Uran 235/238 ca. 700 bzw. 4500 Millionen Jahre). Der mit der Behauptung vermittelte Eindruck, erst durch die Kernspaltung kämen radioaktive Stoffe mit langer HWZ in unsere Umwelt, ist somit nicht richtig.

Wie auch bei Wikipedia nachlesbar ist, haben beide Uran-Isotope lange Zerfallsketten mit mehr als zehn Stufen, wobei jeweils beim Zerfall Strahlung abgegeben wird und ein anderes radioaktives Element entsteht, bis die Zerfallskette schließlich bei einem nicht radioaktiven Bleiisotop endet. Das von Natur aus in den oberen Erdschichten mit Kontakt zu Grundwasser/Biosphäre vorhandene Uran mit seinen Zerfallsprodukten ist deshalb Ursache von etwa ¾ der Strahlenexposition [7], die in Deutschland lebende Personen im Durchschnitt jährlich erhalten.

Die bei der Kernspaltung gebildeten Radionuklide haben dagegen durchweg eine kürzere oder viel kürzere HWZ als das der Erde entnommene Uran. Der ganz überwiegende Teil der gebildeten Nuklide zerfällt somit bereits im KKW oder bei der Zwischenlagerung zu nicht radioaktiven Stoffen. Der Rest wird in geologisch tiefen und stabilen Schichten eingelagert werden, fernab von Grundwasser und Biosphäre.

Hier von einem nennenswerten Risiko für „1 Millionen Jahre“ zu sprechen ist irreführend. Zum einen sind die entstandenen radioaktiven Stoffe bereits nach rund 100.000 Jahren, s. Abb. 1.2 in Link) so weit zerfallen, dass sie radiotoxisch gut vergleichbar sind mit dem Ausgangsmaterial Uranerz, also einem Zustand, wie er in der Natur vorkommt. (Und nirgendwo wird die – schon immer radioaktive – Natur als „besorgniserregendes Risiko“ betrachtet.) In anderen Ländern, wie z.B. Schweden und Finnland, werden deshalb auch die Betrachtungen auf Zeiten bis 100.000 Jahre begrenzt, in anderen Ländern z.T. noch kürzer.

Zum anderen gefährden die radioaktiven Stoffe, die im Endlager eingeschlossen und gekapselt sind, mit ihrer Strahlung offensichtlich keine an der Erdoberfläche vorhandenen Lebewesen. Für die Bewertung, ob denn eine Gefährdung entstehen könnte, geht es also um die Frage, ob es einen Mechanismus gibt, der die radioaktiven Stoffe „schnell genug“, also vor ihrem weitgehenden Zerfall, aus dem Endlager wieder in die Biosphäre transportieren könnte – und das in konzentrierterer Form als das, was ohnehin von Natur aus im Untergrund vorhanden ist (vor allem Uran mit seinen Zerfallsprodukten, s.o.).

Ein solcher Mechanismus wird jedoch bei einem nach der Einlagerungsphase wieder verschlossenen Endlager durch mehrere Barrieren verhindert[5]:

  • Anordnung in einer 600 m oder mehr unter der Erdoberfläche liegenden, seit vielen Millionen Jahren stabilen geologischen Formation, bei der keine geologischen Einwirkungen absehbar sind, die zu einer ungünstigen Veränderung im Bereich der Endlagerkammern führen könnten. Durch die große Tiefe werden auch zufällige oder böswillige menschliche Einwirkungen mit Beschädigung der Endlagerkammern praktisch verhindert.
  • Anordnung in Formationen mit allenfalls geringen Wasservorkommen, sodass selbst bei hypothetischen Beschädigungen im Bereich der Einlagerungskammern höchstens ein langsamer Wasserdurchsatz möglich wäre.[6]
  • Kapselung der eingelagerten radioaktiven Stoffe, sodass selbst bei unterstelltem Wasserzutritt eine Auslaugung nur um Jahrtausende verzögert möglich wäre.
  • Lange Transportwege durch mächtige Gesteins- und Erdschichten, was wegen langsamer Fließgeschwindigkeiten in der Tiefe sowie Verzögerungen durch chemische Prozesse (Fällungsreaktionen, Bildung von komplexen Molekülen) zu langen bis sehr langen Transportzeiten bis in die Ökosphäre führt.

Nach Verschließen des Endlagers (d.h. Verfüllen der Zugänge) kann man sich für das Fernhalten der gelagerten radioaktiven Stoffe aus der Ökosphäre im Wesentlichen auf Naturgesetze verlassen, für deren „Funktionieren“ keine Überwachung erforderlich ist:

  • Die für ein Endlager vorgesehenen tiefen geologischen Formationen haben sich seit 10 Millionen Jahren oder noch länger praktisch nicht verändert oder verformt. Die Entwicklung tektonischer Prozesse, die das für derart lange stabile Gebiete ändern könnten, ist zwar erdgeschichtlich möglich, dauert aber Zehntausende von Jahren oder mehr[7].
  • Selbst wenn man einen schnelleren Prozess mit Schäden an den Einlagerungskammern sowie Wassereintritt unterstellte, müssten erst die Kapselungen durchkorrodieren, die Schadstoffe sich in Wasser lösen und über weite Strecken durch Gestein und Erdreich transportiert werden, bevor sie theoretisch die Ökosphäre erreichen könnten.

Faktisch wird jedoch die Ökosphäre nicht erreicht, weil der Transport für die relevanten Radionuklide zu lange dauert. Bei den Spaltprodukten ist beispielsweise das radiologisch besonders bedeutsame und vergleichsweise gut wasserlösliche Caesium 137 bereits nach rund 1000 Jahren bis auf unwesentliche, d.h. im Rahmen der natürlichen Radioaktivität liegende, Werte zerfallen. In der Zeitspanne ist noch nicht einmal die Kapselung durchkorrodiert. Die deutlich langlebigeren Transurane (z.B. Plutonium) bilden im chemischen Umfeld der zu durchwandernden Gesteinsschichten komplexe Verbindungen, die schlecht wasserlöslich sind und deshalb kaum transportiert werden. Hierzu hat die Natur selbst „Langzeitexperimente“ durchgeführt („Naturreaktor Oklo“, Cigar Lake Uran-Mine), die zeigen, wie gering der Transport von Uran und Transuranen sowie ihren Zerfallsprodukten selbst über Millionen von Jahren gewesen ist.

Vor diesem Hintergrund ist klar, dass eine nennenswerte Änderung der von der Natur vorgegebenen Radioaktivität in der Biosphäre durch das Endlager auch sehr langfristig nicht auftritt. Daraus ein „Risiko für eine Millionen Jahre“ abzuleiten, ist irreführend und lässt jedes Bemühen um einen seriösen Bewertungsmaßstab vermissen.

Bei anderen toxischen Abfällen (z.B. Filterstäube aus der Hausmüllverbrennung) wird die Tiefe durchaus als wirksame Barriere gegen eine Rückkehr in die Biosphäre allgemein akzeptiert. Bekannt ist, dass allein aus einer großen Berliner Müllverbrennungsanlage jährlich ca. 15.000 Tonnen anfallen, deutschlandweit insgesamt mehr als die zehnfache Menge, die in stillgelegte Bergwerksstollen oder Salzkavernen eingebracht wird! Warum wird in der öffentlichen Diskussion der Schutz durch die Tiefe für radioaktive Abfälle anders gesehen? Nachvollziehbare Gründe werden nicht dafür genannt.

Schließlich ist für eine Bewertung Folgendes zu überlegen: 1 KKW produziert pro Jahr etwa 10-11 TWh, dabei fallen gut 20 Tonnen verbrauchter Brennstoff an. Für die gleiche Strommenge in Kohlekraftwerken entstehen rund 10-11 Millionen Tonnen CO2. Mit Blick auf den Klimawandel sind 20 Tonnen abgebrannten Urans gekapselt und eingeschlossen im Endlager abzuwägen gegen 10-11 Millionen Tonnen CO2 in der Atmosphäre.

Fazit

  • Es gibt keine idealen Energieträger, jeder hat seine Vor- und Nachteile. Diese sollte man ehrlich abwägen, wenn ein Energiesystem angestrebt wird, das hinsichtlich der geltenden Ziele optimiert ist (Flexibilität, geringe Umweltrisiken, Versorgungssicherheit, Wirtschaftlichkeit – Reihenfolge alphabetisch).
  • Unstreitig gibt es hier auch Vor- und Nachteilen der Kernenergienutzung, die aber ebenfalls seriös diskutiert werden sollten. Dieses Kriterium wird jedoch in der öffentlichen Diskussion häufig nicht erfüllt. Die hauptsächlich genannten Gründe gegen eine Nutzung zur Verringerung von CO2-Emissionen sind bei kritischer Betrachtung überzeichnet oder ohne Faktenbasis. Vor allem die Behauptung, wegen der Endlagerung sei die Kernenergie zur CO2-Verringerung nicht verantwortbar, verkennt wichtige naturwissenschaftliche Zusammenhänge.
  • Der Versuch, die Behauptung von der prinzipiellen Unvereinbarkeit von Erneuerbaren Energieträgern und Kernenergie auch anderen Ländern wie z.B. Finnland, Frankreich, Schweden, Slowakei, Tschechien und Ungarn aufdrängen zu wollen, obwohl diese Behauptung dort für falsch gehalten wird, droht einen gemeinsamen Kurs in der EU zur Klimaneutralität zu gefährden.
  • Gravierende offene Fragen, ob und wie das Ziel „100 % Erneuerbare in der Energieversorgung“ in der kurzen Zeit bis 2050 oder gar 2045 erreicht werden kann, werden von einigen in der öffentlichen Diskussion mit großer Energie ausgeblendet.Soll etwa die forcierte Diskussion gegen die Kernenergie davon ablenken?

[1]          Claudia Kemfert et al., Atomwende: Abschaltung von Kernkraftwerken eröffnet Perspektiven für die Endlagersuche, DIW Wochenbericht 47/2021, https://www.diw.de/documents/publikationen/73/diw_01.c.830211.de/21-47-1.pdf
Zu einem ähnlichen Papier der „Scientists for Future“, auch mit Federführung von Claudia Kemfert, gibt es eine detaillierte Kritik von A.V. Wendland, Gutachten über das Papier der S4F Germany „Kernenergie und Klima“, “ https://www.gwup.org/141-wurzel/neuigkeiten/2293-gutachten-zum-papier-kernenergie-und-klima

[2]          K. Kosowski, F. Diercks, Quo vadis, Netzstabilität, atw 66 (2021), Heft 11, https://www.kernd.de/kernd-wAssets/docs/fachzeitschrift-atw/2021/Artikel-atw-D-2021-6-Quo-vadis-Netzstabilitaet-Kosowski-Diercks.pdf

[3]          H. Ludwig et al., Lastwechselfähigkeiten deutscher KKW, atw 55 (2010), Heft8/9, https://www.vgb.org/vgbmultimedia/atw2010_09_waas_lastwechselfaehigkeiten_kkw-p-4099.pdf

[4]          F. Blümm, Energiewende in Deutschland: aktuelle Situation 2021, https://www.tech-for-future.de/energiewende-aktuell/

[5]          A.V. Wendland, B. Peters, Das DIW-Papier über die „teure und gefährliche“ Kernenergie auf dem Prüfstand, atw 64 (2019), Heft 10, https://www.researchgate.net/publication/340051365_Das_DIW-Papier_uber_die_teure_und_gefahrliche_Kernenergie_auf_dem_Prufstand

[6}          U. Waas, Technisch-naturwissenschaftliche Aspekte der Kernenergienutzung, in: Hennenhöfer/Mann/Pelzer/Sellner, Atomgesetz mit Pariser Haftungsübereinkommen, Beck’ scher Gesetzkommentar, München 2021

[7]          BT-Drucksache 19/26240, Umweltradioaktivität und Strahlenbelastung im Jahr 2018, 26.01.2021, https://dserver.bundestag.de/btd/19/262/1926240.pdf


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