Eine Moräne macht noch keinen Winter: Mittelalterliche Wärmeperiode behauptet sich im Faktencheck gegen plumpes Aktivistenpaper zur kanadischen Baffininsel

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Am 4. Dezember 2015 erregte das Earth Institute der New Yorker Columbia University Aufsehen mit einer provokanten Pressemitteilung: Die Besiedelung Grönlands durch die Wikinger ab 985 n. Chr. hätte rein gar nichts mit dem Klima zu tun.

Study Undercuts Idea That ‚Medieval Warm Period‘ Was Global
Vikings May Not Have Colonized Greenland in Nice Weather

Anstatt mildem Klima der Mittelalterlichen Wärmeperiode (MWP) wäre es in Grönland vielmehr so kalt gewesen, dass sich Gletschervorschübe ereigneten. Ein Team um den Glaziologen Nicolás Young hätte nun auf der Grönland westlich vorgelagerten Baffininsel den Beweis hierfür gefunden. Die MWP wäre daher wohl doch nur ein lokales europäisches Phänomen:

“It’s becoming clearer that the Medieval Warm Period was patchy, not global,” said lead author Nicolás Young, a glacial geologist at Columbia University’s Lamont-Doherty Earth Observatory. “The concept is Eurocentric—that’s where the best-known observations were made. Elsewhere, the climate might not have been the same.”

In der Pressemitteilung zeigte man sich überzeugt, die Studie habe dem MWP-Konzept nun endgültig den Gnadenstoß versetzt:

Gifford Miller, a paleoclimatologist at the University of Colorado, called the paper “a coup de grace on the Medieval Warm Period.” Miller said it shows “with great clarity of evidence” that “the idea of a consistently warm Medieval period is certainly an oversimplification and of little utility.”

Es verwundert schon, dass die Columbia University eine solch emotionale und kämpferische Pressemitteilung überhaupt durchgehen ließ. Mediale Aufmerksamkeit um jeden Preis? Die Presse schien dies zu spüren und griff das Thema nur zögernd auf. So berichtete der Toronto Star erst am 14. Dezember 2015, mehr als zehn Tage nach der Pressemitteilung. Im Titel des Artikels machte man zudem kenntlich, dass es sich nicht unbedingt um gesichertes Wissen handelt, sondern den Vorschlag einer einzelnen Wissenschaftlergruppe („study suggests“):

Climate change didn’t force Vikings to abandon Greenland, study suggests

Die International Business Times verwendete sogar den Begriff „behaupten“ (claim) in ihrer Überschrift:

Climate change did not force Vikings to abandon Greenland, claim scientists

In der deutschsprachigen Presse suchte man Berichte zur Baffin-Arbeit vergebens. Hatte man auch hier bemerkt, dass hier etwas faul sein könnte? Allein Scinexx.de stieg relativ groß ein und verbreitete die Story, schön bebildert, Wiki läßt schön grüßen:

Grönland: Verschwinden der Wikinger bleibt rätselhaft
Neue Messungen sprechen gegen eine plötzliche Abkühlung des Klimas als Ursache

Sind die Ergebnisse der neuen Studie wirklich so robust wie von der Columbia University dargestellt, dass solch weitreichende Schlussfolgerungen mit letzter Sicherheit gezogen werden können? Ein Fall für das MWP-Kartierprojekt! Im Folgenden wollen wir die Studie und Pressemeldung auf Herz und Nieren checken. Was ist dran an der Behauptung der Mittelalterlichen Kälteperiode auf Grönland?

Der guten Ordnung halber zunächst einmal die die Kurzfassung der betreffenden Arbeit von Young und Kollegen, die am 4. Dezember 2015 in Science Advances erschien, einer Schwesterzeitschrift von Science:

Glacier maxima in Baffin Bay during the Medieval Warm Period coeval with Norse settlement
The climatic mechanisms driving the shift from the Medieval Warm Period (MWP) to the Little Ice Age (LIA) in the North Atlantic region are debated. We use cosmogenic beryllium-10 dating to develop a moraine chronology with century-scale resolution over the last millennium and show that alpine glaciers in Baffin Island and western Greenland were at or near their maximum LIA configurations during the proposed general timing of the MWP. Complimentary paleoclimate proxy data suggest that the western North Atlantic region remained cool, whereas the eastern North Atlantic region was comparatively warmer during the MWP—a dipole pattern compatible with a persistent positive phase of the North Atlantic Oscillation. These results demonstrate that over the last millennium, glaciers approached their eventual LIA maxima before what is considered the classic LIA in the Northern Hemisphere. Furthermore, a relatively cool western North Atlantic region during the MWP has implications for understanding Norse migration patterns during the MWP. Our results, paired with other regional climate records, point to nonclimatic factors as contributing to the Norse exodus from the western North Atlantic region.

Wir haben die Arbeit von Young et al. speziell zum Anlass genommen, die MWP-Kartierung im Bereich Kanadas und Grönlands voranzutreiben. Nach drei Wochen Kartierarbeit sind nun die wichtigsten Studien erfasst und erlauben uns, die neue Baffin-Publikation im Kontext der Literatur-Gesamtlage zu bewerten. Die Baffininsel liegt wie erwähnt westlich von Grönland. Wir werden im Folgenden Studien aus der nordöstlichen kanadischen Arktis sowie der Westküste von Grönland heranziehen. In der untenstehenden Karte (Abbildung 1) sind alle relevanten Papers aufgeführt und zur Vereinfachung der Diskussion durchnummeriert. Die Karte lässt sich auch in Google Maps öffnen, wo die Punkte interaktiv geklickt werden können, wobei Zusatzinformationen wie Zeitschriftenlink, Methodik, MWP-Analyse und die wichtigste Abbildung erscheinen. Rote Punkte markieren Studien, in denen die MWP als Warmphase ausgebildet war, blaue Punkte markieren Arbeiten, in denen die MWP als kalt beschrieben wurde. Der kühle blaue Punkt mit der Nummer 1 steht für die neue Arbeit von Young und Kollegen.

Zunächst einmal ist erkennbar, dass es in dem gesamten Kartenausschnitt nur zwei blaue Punkte und eine Vielzahl von roten gibt. Die MWP-Warmphase ist also aus der Region ausführlich beschrieben. Da ist es schon reichlich vermessen, auf Basis einer einzigen neuen Arbeit plötzlich die MWP in Kanada/Grönland und sogar weltweit in Frage zu stellen. Hatte man vielleicht gehofft, die Öffentlichkeit würde von den anderen Studien aus dem Gebiet schon nichts erfahren?

 

Abbildung 1: Lagekarte von Studien mit Ergebnissen zur Mittelalterlichen Wärmeperiode (MWP). Zahlen beziehen sich auf die Reihenfolge der Diskussion im Text. Rote Punkte: MWP war warm; blaue Punkte: MWP war kalt. Dazugehörige interaktive Google Maps Karte hier.

 

Keine Angst, wir wollen Sie hier nicht mit einer ellenlangen Marathonbeschreibung der verschiedenen Studien langweilen. Ein paar Basisdaten wollen wir trotzdem aufführen und uns dann auf die richtig interessanten Aspekte beschränken. Von der Baffininsel selbst sind 10 MWP-Studienlokationen bekannt:

(2) Im Nordwesten der Insel illustrierten Briner et al. 2009 auf Basis anderer Arbeiten eine prominente Gletscherrückzugsphase, die sich dort 800-1200 n.Chr. ereignete – also genau zur Zeit der MWP, als die Wikinger das benachbarte Grönland besiedelten.

(3) Anderson et al. 2008 datierten vom Gletscher überfahrene Vegetation und fanden eine Warmphase 1000-1250 n.Chr. Ab 1280 n.Chr. dokumentierten sie eine starke Abkühlung und Vorrücken von Gletschern.

(4) Dieser Punkt steht für 94 Gletscherfront-Lokationen auf Baffin Island, die Miller et al. 2012a untersuchten. Ergebnis: Eine Warmphase 950-1275 n.Chr. Die Kälte der Kleinen Eiszeit und Eiswachstum begann abrupt zwischen 1275-1300 n.Chr., die sich um 1430-1455 n.Chr. noch einmal intensivierte.

(5) Studienpunkt 5 namens ‚Big Round Lake‘ liegt in unmittelbarer Nachbarschaft zum Young-et-al-Studiengebiet. Thomas & Briner 2009 beschrieben hier eine Warmphase für die Zeit 970–1150 n.Chr, die aber angeblich mehr als ein Grad unter den heutigen Temperaturen gelegen haben soll. Stutzig macht die Methodik, mit der Thomas & Briner diese Erkenntnis erlangt haben wollen. Die Forscher vermaßen die Schichtdicke von sogenannten Warven, also jahreszeitlich geschichteten Seensedimenten. Dabei fanden sie für die vergangenen Jahrzehnte eine schöne Korrelation zwischen Sommertemperaturen und Schichtmächtigkeit. Dickere Schichten fielen mit warmen Temperaturen zusammen. Ein empirischer Befund. Unklar ist nun, ob dieser Zusammenhang auch für die letzten 1000 Jahre gilt. Thomas & Briner 2009 nahmen dies zunächst mutig an. Allerdings weisen Vergleiche mit anderen Untersuchungsgebieten nun darauf hin, dass die Forscher hier wohl falsch lagen. Früher führten warme Sommertemperaturen offenbar zu dünneren Lagen. Steve McIntyre zeigte in seinem Climate Audit-Blog hierzu eine schöne Analyse. Auch Balascio et al. 2015 scheinen die Warven-Daten mittlerweile uminterpretiert zu haben und sehen die recht dünnen Varven im Big Round Lake zwischen 1000-1400 n.Chr. als Hinweis auf warme Temperaturen und eine gut ausgebildete MWP. Lediglich zwischen 1200-1300 n.Chr. nimmt die Varvendicke etwas zu, was auf eine kühlere Zwischenepisode hinweisen könnte. Dies sind die Zusammenhänge und Stories, die erst bei einem tieferen Eintauchen in die Materie zum Vorschein kommen.

(6) Joynt III et al. 2001 untersuchten Diatomeen im Fog Lake und dokumentierten eine Warmphase im Bereich 1000 n.Chr., die etwa 1°C wärmer war als die nachfolgende Kleine Eiszeit.

(7) Auf der North Cumberland Peninsula gibt es den zweiten Datenpunkt, der auf lokale Gletschervorschübe während der MWP hinweist. Briner et al. 2009 datierten hier Moränen und fanden expandierende Gletscher 1000-1300 n.Chr., was ganz gut mit den Ergebnissen von Young et al. 2015 zusammenpasst. Der Gletschervorschub bedarf natürlich einer Erklärung. Eine große Zahl von Studien aus der Region belegt deutlich die MWP-Wärmephase. Unter bestimmten Umständen können Gletscher nun auch unter diesen warmen Bedingungen vorrücken, nämlich wenn die Niederschläge, sprich Schneezufuhr zunimmt. War das MWP-Klima in der Region vielleicht feuchter, weil mehr Wasser verdunstete, der dann zu mehr Schnee führte? Aus Grönland wissen wir, dass sich die Schneefälle seit 1890 im Zuge der Erderwärmung spürbar erhöht haben. Auch heute gibt es übrigens Gletscher in der Welt, die sich ausdehnen, z.B. in Norwegen. Eine Übersicht gibt es hier.

(8) In unmittelbarer Nachbarschaft zu den expandierenden MWP-Gletschern der North Cumberland Peninsula liegt der Donard Lake, der von Moore et al. 2001 paläoklimatisch untersucht wurde. Die Autoren fanden zwischen 1200-1375 n.Chr. eine Phase mit erhöhten Sommertemperaturen, die 1375-1820 n.Chr. von kühleren Temperaturen der Kleinen Eiszeit gefolgt wurde. Allerdings verwendete auch diese Studien Warven… Weitere Daten mit unabhängiger Methodik sind also notwendig, um hier weiterzukommen.

(9) Hochinteressant: Im Zentralbereich der Cumberland Peninsula fanden Briner et al. 2009 schrumpfende Gletscher 1000-1300 n.Chr. Dies deutet daraufhin, dass die Gletscherentwicklung auf der Baffininsel keineswegs homogen war, sondern je nach Lage unterschiedlich verlief, zum Teil mit gegenteiligen Trends. Vielleicht spielte hier Zugang zu Schneenachschub eine Rolle, wobei einige Gebiete direkt von den vom Ozean herüberdriftenden Schneeniederschlägen versorgt wurden. Andere Gebiete könnten durch Bergrücken vom üppigen Schneenachschub abgeschnitten gewesen sein, z.B. der Zentralbereich der Cumberland Peninsula wo die MWP-Wärme die Gletscher schrumpfen ließ.

(10) Auch Margreth et al. 2014 untersuchten die Gletscher der Cumberland Peninsula. Auch sie finden eine deutlich ausgepägte MWP. Im Abstract schreiben sie:

“Intensification of ice expansion between 1.9 and 1.1 ka [100 and 900 AD], followed by halt of ice growth, or ice recession during the Medieval Warm Period, and iii) renewed ice expansion after 0.8 ka [1200 AD], in response to cooling related to a combination of large volcanic eruptions and low solar activity. Overall, the observations support a model of near-instantaneous glacial response to regional climate controls and that these responses were synchronous throughout eastern Canadian Arctic and possibly eastern Greenland“.

(11) Schauen wir uns nun in den Nachbargebieten der nordostkanadischen Arktis um. Auf Southampton Island untersuchten Rolland et al. 2009 den ‚Lake 4‘ und rekonstruierten die Temperaturentwicklung mithilfe der Chironomid-Methode. Dabei konnten die Autoren die MWP verlässlich nachweisen. Im Abstract heißt es:

„Higher temperatures were recorded from cal yr AD 1160 to AD 1360, which may correspond to the Medieval Warm Period. Between cal yr AD 1360 and AD 1700, lower temperatures were probably related to a Little Ice Age event.“

(12) Weiter mit Adams & Finkelstein 2010 und Iamonaco 2011, die einen Sedimentkern aus ‚Lake SP02‘ von der Melville Peninsula beschrieben. Beide Studien liefern gute Belege für die MWP. Iamonaco 2011:

“Period of relative warmth between 1300-1000 yr BP, interpreted as evidence for the Medieval Warm Period”. “The main evidence for short-term climate shifts in the SP02 pollen record, which have been interpreted as possible evidence for the MWP, corresponds to pollen Zone 4b, and covers the period 1300 to 1000 yr BP (Figure 6). During this period there are increases in the relative abundances of long distance pollen representing Pinus and Picea, which may indicate increased prevalence of warmer air currents from areas to the south of the study site“

Adams & Finkelstein 2010:

„The … SP02 record shows that the whole of the past 2000 years should be considered in the context of the long-term cooling of the Neoglacial. There are some small changes in the biostratigraphy which could be indicative of warming coincident with the Medieval Warm Period, including a small increase in the abundance of the taxon P. pseudoconstruens, noted elsewhere to track warmer air and water temperatures.”

(13) Von der Boothia Peninsula  beschrieben LeBlanc et al. 2004 und Zabenskie & Gajeweski 2007 eine Studie zu ‚Lake JR01‘. LeBlanc et al. 2004 dokumentierte eine Warmphase 850-1400 n.Chr. auf Basis von Verschiebungen in der Florenzusammensetzung sowie einer erhöhten Kieselalgenhäufigkeit. Abkühlung 1400-1850 n.Chr. wird durch einen Rückgang der Kieselalgen und eine Zunahme von Kaltwasserindexformen markiert. Die Kaltwasserformen verschwinden erst ab 1850 wieder allmählich. Zabenskie & Gajweski 2007 interpretieren mithilfe von Pollen eine Warmphase 1100-1250 n.Chr., die sie als MWP ansprechen. Die Erwärmung ist durch eine Zunahme von Alnus, Betula, Salix and Cyperaceae und eine Abnahme von Pinus gekennzeichnet .

(14) Finkelstein & Gajewski 2007: Lake PW03, Prescott Island. Erhöhter biogener Silikatgehalt um 1000 n.Chr. zeigt gute (wärmere) Lebensbedingungen für Kieselalgen an. Warme Temperaturen 700-1300 n.Chr. Abkühlung ab 1300 n.Chr., angezeigt durch Abnahme der Warmwasserindexformen Navicula submuralis and Sellaphora seminulum.

(15) Vare et al. 2009: Core ARC-3, Barrow Strait. Untersuchung des Meereis-Biomarker IP25 in einem Sedimentkern. Resultat: Meereis an der Lokalität war während der MWP reduziert, während der nachfolgenden Kleinen Eiszeit stärker verbreitet:

“We also provide evidence for slightly lower and subsequently higher spring sea ice occurrence during the Mediaeval Warm Period and the Little Ice Age respectively.“

(16) Paterson et al. 1977, Wolfe 2002: Eiskerne von der Eiskappe auf Devon Island. Erhöhte delta18O-Sauerstoffisotopen zeigen Wärmephase 1000-1400 n.Chr. an.

(17) Mustaphi & Gajewski 2013: Lake DV09 auf Devon Island. Autoren finden Hnweise auf die MWP über Warvenanalyse.

 

Zwischenfazit Kanada: In der Arktis des nordöstlichen Kanada scheint die Situation also ziemlich klar zu sein: Die MWP ist in zahlreichen Studien beschrieben. Nur zwei Gletscherarbeiten (darunter jene von Young et al. 2015) zeigen MWP-Gletschervorstöße, die vermutlich jedoch ein lokales Phänomen darstellen, z.B. ausgelöst durch lokal erhöhte Schneefallmengen.

Im Folgenden schauen wir Richtung Grönland. Was haben paläoklimatische Studien an der grönländischen Westküste gefunden? Die entsprechenden Studien sind in Abbildung 2 markiert.

 

Abbildung 2: Lagekarte von Studien mit Ergebnissen zur Mittelalterlichen Wärmeperiode (MWP) – Detailkarte Grönland Westküste. Zahlen beziehen sich auf die Reihenfolge der Diskussion im Text. Rote Punkte: MWP war warm; blaue Punkte: MWP war kalt. Dazugehörige interaktive Google Maps Karte hier.

 

(18) Jennings et al. 2014: Core HU2008029-070CC, outer shelf in the Disko Trough system
Dieser Sedimentkern wurde etwa auf halber Strecke zwischen Baffin Island und der grönländischen Westküste aus dem Meeresboden gewonnen. Resultat der Mikrofossiluntersuchungen: Die MWP war warm und die Abkühlung in Richtung Kleine Eiszeit spürbar:

“Neoglacial cooling is inferred between 4000 and 1800 cal a BP. A warm interval that encompasses the Roman Warm Period and the Medieval Warm Period is found between 1800 and 700 cal a BP followed by a cooling after 700 cal a BP that relates in time to the LIA.“

(19) Sha et al. 2014, Andresen et al. 2011: Marine sediment core DA06-139G, Vaigat Strait, Disko Bugt.
Sha et al. 2014 fanden eine Abnahme der Meereisbedeckung 900-1400 n.Chr., wobei die Phasen davor und danach (Kälteperiode der Völkerwanderungszeit und Kleine Eiszeit deutlich höhere Meereisbedeckungen besaßen. Andresen et al. 2011 dokumentierten eine Warmphase 1000-1200 n.Chr., angezeigt durch eine Zunahme des wärmeren Atlantikwassers, Zunahme von Eisbergen (instabilere Eiskante) und eine Zunahme der Schmelzwassermengen.

(20) Lloyd et al. 2007: Core DA03, Disko Bugt.
Die Studie verwendete benthische Foraminiferen als Temperaturproxy für die vergangenen 7000 Jahre und konnte eine Warmphase um das Jahr 1000 n.Chr. nachweisen.

(21) Krawczyk et al. 2010: Core DA00-02, Disko Bugt.
Hier muss man etwas genauer hinschauen. Die Autoren untersuchten Diatomeen, also Kieselalgen als Klimaproxy. Sie fanden kühles Oberflächenwasser während der MWP und warmes Wasser während der Kleinen Eiszeit. Dies scheint im ersten Augenblick dem MWP-Modell zu widersprechen. An dieser Stelle muss man sich etwas näher in die Materie eindenken, und dies haben auch die Krawczyk et al. 2010 getan. Die Studienlokation befindet sich nämlich im Fjord der Diskobucht. Als sich das Klima im Zuge der MWP erwärmte, schmolzen die grönländischen Gletscher verstärkt ab. Das kalte Schmelzwasser wurde über Fjorde dem Atlantik zugeführt. Die Fjorde kühlten sich daher ab, trotz regionaler MWP-Erwärmung. Der Kühleffekt verschwindet dann allmählich am Ende des Fjordes, wo die atlantischen Wassermassen die Temperatur dominieren. Bei derlei Betrachtungen spielt dann auch eine große Rolle, welche Klimaproxies verwendet und welche Wasserschichten damit rekonstruiert werden. Bodenbewohner wie benthische Foramniferen zeigen hier u.U. andere Trends als Organismen aus den Oberflächenschichten der Wassersäule. Also nochmals: Die Abkühlung des oberflächennahen Fjordwassers in dieser Studie ist eine Folge der MWP-Erwärmung und passt bestens ins Bild. Als dann das Klima in Richtung Kleine Eiszeit wieder abkühlte, reduzierte sich der Schmelzwasserzufluss in den Fjorden und das Oberflächenwasser erwärmte sich wieder auf atlantisches Niveau. Hier die entsprechende Passage aus dem Abstract der Arbeit:

“The diatom flora record relatively cool surface water conditions during the end of the ‘Roman Warm Period’ and ‘Medieval Warm Period’ (MWP), and relatively warmer surface water conditions during the ‘Dark Ages Cold Period’ and ‘Little Ice Age’ (LIA). This is particularly pronounced during the MWP, experiencing the coldest conditions, and the LIA experiencing the warmest conditions through the whole sequence studied. The most likely explanation for this anti-phase relationship is linked to the flux of meltwater delivered to the WGC from sea ice and the Greenland ice sheet off the West Greenland margin. The generally warmer conditions of the MWP resulted in increased melting of sea ice and the Greenland ice sheet producing an increased meltwater flux and cooling of the surface waters of the WGC. In contrast, reduced meltwater flux during the relatively cold LIA resulted in reduced meltwater flux to the WGC, producing a relative warming of the surface waters recorded by the diatom flora.“

Ähnliche Effekte sind übrigens auch aus Neufundland beschrieben. Klicken Sie bei Interesse auf die beiden blauen Punkte auf der MWP-Karte, um Näheres zu erfahren.

(22) Ouellet-Bernier et al. 2014, Krawczyk et al. 2013, Perner et al. 2011, Ribeiro et al. 2012: Core MSM343310, outer Disko Bay.
Mehrere Studien haben diesen Sedimentkern mit verschiedensten paläontologischen Methoden beackert. Fazit: An der Oberfläche der besprochene MWP-Fjord-Kühleffekt, am Meeresboden eine klare MWP-Erwärmung. Hier unsere detaillierte Analyse aus dem MWP-Kartierprojekt, für alle, die es genauer wissen wollen:

Ouellet-Bernier et al. 2014: From 1000-1200 AD summer sea surface temperatures (SST) increased to about 10°C, which is much higher than the present day summer SST of 4.4°C at the coring site. In the dinocyst assemblage, I. minutum percentages decreased, whereas the S. elongatus percentages increase. We suggest that this event corresponds to a warming of the West Greenland Current.
Krawczyk et al. 2013: Medieval Warm Period with cold sea surface water conditions, Little Ice Age with warm sea surface water conditions. Anti-phase to usual North Atlantic trend. Anti-phases patterns could be linked to local hydrological conditions where increased meltwater flux generated during warm climatic phases cools local sea surface water layer.
Perner et al. 2011: During the time period of the ‘Medieval Climate Anomaly’ we observe only a slight warming of the West Greenland Current (WGC). A progressively more dominant cold water contribution from the East Greenland Current on the WGC is documented by the prominent rise in abundance of agglutinated Arctic water species from 1100 AD onwards. This cooling event culminates at 1700 AD and represents the coldest episode of the ‘Little Ice Age’.
Ribeiro et al. 2012: Warm phase 1050-1250 AD, as reflected by low sea ice concentration. Followed by increase in sea ice during Little Ice Age.

 

(23) Perner et al. 2013: Core MSM 343300, outer Disko Bay. Studie für die vergangenen 7500 Jahre auf Basis benthischer Foraminiferen. Leichte Erwärmung 600-1100 n. Chr.. Ab 1100 n. Chr. dann Abkühlung des West Greenland Current mit Kältemaximum um 1700 n. Chr..

(24) Sha et al. 2016: Sediment core GA306-GC4, Holsteinsborg Dyb basin off Kangerlussuaq.
Warmphase 900-1350 n. Chr., nachgewiesen durch Proxy für reduziertes Meereis. Anschließend Zunahme des Meereises im Zuge der Kleinen Eiszeit. Die Autoren postulieren eine bedeutende Klimawirkung von Sonnenaktivitätsschwankungen. Hier der Abstract der hochinteressaten Studie, die im Januar 2016 in den Quaternary Science Reviews erschien:

Solar forcing as an important trigger for West Greenland sea-ice variability over the last millennium
Arctic sea ice represents an important component of the climate system, and the present reduction of sea ice in the Arctic is of major concern. Despite its importance, little is known about past changes in sea-ice cover and the underlying forcing mechanisms. Here, we use diatom assemblages from a marine sediment core collected from the West Greenland shelf to reconstruct changes in sea-ice cover over the last millennium. The proxy-based reconstruction demonstrates a generally strong link between changes in sea-ice cover and solar variability during the last millennium. Weaker (or stronger) solar forcing may result in the increase (or decrease) in sea-ice cover west of Greenland. In addition, model simulations show that variations in solar activity not only affect local sea-ice formation, but also control the sea-ice transport from the Arctic Ocean through a sea-ice–ocean–atmosphere feedback mechanism. The role of solar forcing, however, appears to have been more ambiguous during an interval around AD 1500, after the transition from the Medieval Climate Anomaly to the Little Ice Age, likely to be driven by a range of factors.

 

(25) D’Andrea et al. 2011: Lake Sø and Lake E. Studie auf Basis von Alkenon-Paläeotemperaturen (UK37). Die Autoren fanden eine Wärmephase für den Zeitraum 900-1150 n.Chr.

(26) Willemse & Törnqvist 1999: Kangerlussuaq region. Erhöhter Gehalt an organischem Kohlenstoff 800-1100 n.Chr. weist auf gesteigerte biologische Produktivität unter wärmeren Temperaturen hin. Abrupte Abnahme am Ende des Zeitraums durch Abkühlung und Reduktion der biologischen Aktivität.

 

Zwischenfazit Grönland Westküste: Die Gesamtheit der Studien weist auf eine gut ausgeprägte Warmphase während der MWP hin. Schmelzwasserkühlprozess und Differenzierung in verschiedene Wasserstockwerke in Fjorden sind zu berücksichtigen.

 

Zusammenfassung

Die detaillierte Analyse der Gesamtliteratur zur MWP in der nordostkanadischen Arktis sowie der grönländischen Westküste zeigt, dass die Thesen von Young et al. 2015 zur MWP in der Region unhaltbar sind. Die MWP ist in der Region bestens dokumentiert. Sollen all diese Studien nun plötzlich falsch sein? Young und Kollegen haben es offensichtlich versäumt, ihre lokal begrenzte Fallstudie in den notwendigen regionalen Kontext zu stellen. Durch dieses Versäumnis kommen sie zu irreführenden und fehlerhaften Schlussfolgerungen, die sie zudem noch aktiv in einer provokanten und wissenschaftlich unausgewogen verfassten Pressemiteilung in die breite Öffentlichkeit getragen haben. Es ist unklar, weshalb die Gutachter des veröffentlichenden Fachblatts Science Advances diese Mängel nicht erkannten und keine Nachbesserungen forderten. Werden die vielen Autoren der hier vorgestellten anderen Studien die Diskussion mit Young et al. suchen, um die abweichenden Interpretationen zu klären oder würden sie dann unweigerlich Gefahr laufen, als klimaskeptische Lobbyisten öffentlich abgestraft zu werden? Die wissenschaftliche Klimadiskussion im politischen Würgegriff. Die Young et al.-Studie und ihre unangemessene alarmistische Vermarktung („Gnadenstoß für die MWP“) ist ein weiteres Beispiel für den fragwürdigen und emotional hochaufgeladenen Zustand der heutigen Klimaforschung.

 

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Projektspenden

Die vorgestellte Analyse basiert auf einem aktuell laufenden Kartierprojekt zur MWP, das sich durch ‚Crowdfunding‘ finanziert. Wir danken allen bisherigen Unterstützern, die dieses wichtige Projekt möglich machen. Momentan ist knapp die Hälfte der Projektsumme gesichert. Das Spendenbarometer und die Fördererliste finden sie am unteren Ende der MWP-Projektseite.

Spenden per Überweisung:

Kontoinhaber: Prof. Dr. Fritz Vahrenholt
Konto Nr. 1280579069
BLZ 20050550
Hamburger Sparkasse
IBAN DE93200505501280579069
BIC HASPDEHHXXX
Verwendungszweck: MWP-Projekt

 

Spenden per Paypal:

 

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Hier geht es zur Projektseite der MWP-Kartierungsstudie.

 

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