„Hilfe, die Gletscher schmelzen! Seht her, was der böse Klimawandel mit unseren geliebten Eisströmen macht. Noch nie war es so schlimm wie heute.“ Diese und ähnliche tränentreibenden Geschichten können wir in schöner Regelmäßigkeit in der Presse lesen. Nehmen wir zum Beispiel einen Text von der aktuellen Greenpeace-Webseite (Fettsetzung ergänzt):
Gletscher gelten als das Gedächtnis der Klimageschichte, die Gebirgsgletscher als das Fieberthermometer der Erde. Kaum irgendwo lässt sich so deutlich ablesen wie hier, was mit unserem Klima geschieht. Die Gletscher schmelzen mit einer Geschwindigkeit, die selbst Klimaforscher überrascht. […] In den Alpen ist die Veränderung besonders gut dokumentiert. Seit Beginn der Industrialisierung um 1850 haben die Gletscher dort etwa ein Drittel ihrer Fläche und die Hälfte ihrer Masse verloren. Vor allem seit den 90er Jahren hat sich das Tempo erhöht und wird sich in den nächsten Jahren voraussichtlich weiter steigern: Die heutige Schmelze wurde durch Treibhausgasemissionen vor dreißig Jahren verursacht.
Aber ist die Gletscherschmelze wirklich so neu und unerwartet wie stets behauptet? Greenpeace führt die Alpen als angebliches Paradebeispiel an. Und genau dort wollen wir auch unseren heutigen Faktencheck beginnen. Zunächst einmal wundert man sich, dass der Alpengletscherschwund bereits gegen Ende der Kleinen Eiszeit um 1850 begann, als das anthropogene CO2 noch keine klimaprägende Rolle gespielt haben kann. Dies hatte bereits der Quartärgeologe Albert Schreiner 1997 in seinem Lehrbuch „Einführung in die Quartärgeologie“ (S. 188, Abb. 91).
Noch größere Kopfschmerzen bereitet jedoch der Blick zurück in die Klimageschichte der letzten Jahrtausende. Bereits in früheren Beiträgen hatten wir darauf hingewiesen, dass die Alpengletscher auch in den früheren Wärmeperioden signifikant abschmolzen. Die Schmelzphasen während der Mittelalterlichen Wärmeperiode vor 1000 Jahren sowie der Römischen Wärmeperiode vor 2000 Jahren sind mittlerweile gut dokumentiert (siehe unsere Blogartikel „Berner Geologe Christian Schlüchter: Alpengletscher endeten zu Zeiten Hannibals 300 Höhenmeter über dem heutigen Niveau„ und „Eine unbequeme Wahrheit: Alpengletscher waren in der Vergangenheit kürzer als heute“). Im April 2014 wurden nun zwei weitere Arbeiten publiziert, die diese bislang unterschätzte natürliche Gletscherdynamik eindrucksvoll bestätigen. In den Quaternary Science Reviews erschien die Studie eines Forscherteams um Anaëlle Simonneau von der französischen Univ. Orléans, in der die Gletscherbewegungen der letzten Jahrtausende in den Französischen Alpen rekonstruiert wurden. Die Wissenschaftler dokumentierten dabei mehrere Gletscherschmelzphasen, die – wie nicht anders zu erwarten – auch die Römische und Mittelalterliche Wärmephase umfassten (Abbildung 1). Hier ein Auszug aus der Kurzfassung:
Holocene palaeoenvironmental evolution and glacial fluctuations at high-altitude in the western French Alps are reconstructed based on a multiproxy approach within Lake Blanc Huez (2550 m a.s.l.) drainage basin. […] periods of reduced glacial activities dated from the Early Bronze Age (ca 3870–3770 cal BP), the Iron Age (ca 2220–2150 cal BP), the Roman period (ca AD115–330) and the Medieval Warm Period (ca AD760–1160).
Abbildung 1: Rekonstruktion der Gletscheraktivität in den Französischen Alpen. In der untersten Zeile sind die Gletschervorstöße in blau und Schmelzphasen in rot gekennzeichnet. Jahresskala in 1000 Jahren vor heute. Die Mittelalterliche Wärmperiode liegt bei 1 (=1000 Jahre vor heute), die Römische Wärmeperiode bei 2 (=2000 Jahre vor heute). Außerdem: In der Zeit von 9000-6000 Jahre vor herrschte in den Alpen eine massive Gletscherschmelze. Quelle: Simonneau et al. 2014.
Die zweite Arbeit stammt von Martin Lüthi von der Universität Zürich und erschien im Fachmagazin The Cryosphere. Sie enthält eine Rekonstruktion der Alpengletschergeschichte für die vergangenen 1600 Jahre. Interessanterweise wiesen die untersuchten sieben Gletscher während der Mittelalterlichen Wärmeperiode eine ähnliche Länge wie heute auf (Abbildung 2).