Die Entschlüsselung und detaillierte Dokumentation der vorindustriellen Klimageschichte ist eine der wichtigsten Aufgaben der modernen Klimawissenschaften. Denn nur wenn die zeitliche und räumliche Klimavariabilität der Vergangenheit bekannt ist, können natürliche und menschengemachte Beiträge des Klimawandels im industriell geprägten 20. und 21. Jahrhundert voneinander unterschieden werden. Eine der in diesem Themenkomplex beteiligten Forschungsinstitutionen ist das Bremerhavener Alfred-Wegener-Institut (AWI), an dem eine ganze Reihe von Projekten zur Klimadynamik der vergangenen 10.000 Jahre, des sogenannten Holozäns, durchgeführt werden. Ein aktuelles Projekt beleuchtete jetzt die Temperaturentwicklung Sibiriens. Die Ergebnisse der Untersuchungen gab das AWI am 26. Januar 2015 per Pressemitteilung bekannt:
Winter in sibirischen Permafrostregionen werden seit Jahrtausenden wärmer
Wissenschaftlern des Alfred-Wegener-Institutes, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) ist es erstmals gelungen, mit einer geochemischen Methode aus der Gletscherforschung Klimadaten aus Jahrtausende altem Permafrost-Grundeis zu entschlüsseln und die Wintertemperatur-Entwicklung im russischen Lena-Delta zu rekonstruieren. Ihr Fazit: In den zurückliegenden 7000 Jahren ist die Wintertemperatur in den sibirischen Permafrostregionen langfristig gestiegen. Als Grund für diese Erwärmung nennen die Forscher eine sich ändernde Stellung der Erde zur Sonne, verstärkt durch den steigenden Ausstoß von Treibhausgasen seit Beginn der Industrialisierung. Die Studie erscheint als Titelgeschichte der Februar-Ausgabe des Fachmagazins Nature Geoscience und heute vorab schon einmal online.
Was bedeuten diese Resultate? Zugegeben handelt es sich um eine für Laien komplexe Thematik. Es geht um schwierige geochemische Methoden, schwer fassbare lange Zeiträume, eine behauptete Verknüpfung mit der anthropogenen Klimaerwärmung sowie Milankovic-Zyklik. All das spielt im fernen Sibirien, das vermutlich kaum einer der Leser genauer kennt. Hängenbleiben wird beim ersten Überfliegen der Pressemitteilung „Klimaerwärmung seit tausenden von Jahren, Industrialisierung, Treibhausgase“. Seht her, da ist ein weiterer Beweis für unser frevelhaftes Tun und die unaufhaltbare Klimakatastrophe in Zeitlupe. Aber nicht so schnell. Lassen Sie uns die Komponenten der Studie einzeln diskutieren und auf ihre Gültigkeit und Bedeutung überprüfen.
Langfristige Erwärmung der Winter im Verlauf der letzten 7000 Jahre
Ein übraus interessantes Resultat: Eine langfristige, natürliche Erwärmung der Winter im Untersuchungsgebiet in den letzten Jahrtausenden. Exakte Temperaturwerte können die AWI-Forscher nicht angeben, wie das AWI in seiner Pressemitteilung erläutert:
Um wie viel Grad Celsius genau die arktischen Winter wärmer geworden sind, können die Wissenschaftler nicht in absoluten Zahlen sagen: „Das Ergebnis der Sauerstoff-Isotopenanalyse verrät uns zunächst nur, ob und wie sich das Isotopenverhältnis verändert hat. Steigt es, sprechen wir von einer relativen Erwärmung. Wie groß diese allerdings genau ausgefallen ist, können wir noch nicht ohne Weiteres sagen“, erklärt Thomas Opel.
Aber es wäre sicher ganz nett gewesen, wenn eine ungefähre Temperaturabschätzung erwähnt worden wäre. Die heutigen Wintertemperaturen betragen im Lenadelta minus 30 Grad bis minus 40 Grad, wie die Encyclopaedia Brittanica weiß:
The climatic features of the Lena River basin are determined by its location, with its upper course well inside the continent and its lower course in the Arctic. In winter the powerful Siberian anticyclone (high-pressure system) forms and dominates all of eastern Siberia. Because of the anticyclone, the winter is notable for its clear skies and lack of wind. Temperatures fall as low as −60 to −70 °C, with average air temperature in January ranging from −30 to −40 °C. In July averages range between 10 and 20 °C.
Nun war es laut AWI vor ein paar tausend Jahren also noch etwas kälter, sagen wir einfach mal minus 45 Grad, nur um einen Wert zu haben. Es geht also in der ganzen Geschichte um eine Winter-„Erwärmung“ die sich von „sehr, sehr super saukalt“ hin zu „immer noch sehr super saukalt“ entwickelt hat. Bei Nennung dieser Temperaturen hätte vielleicht dem einen oder anderen Leser die Idee kommen können, dass die Winter-Erwärmung der Gegend zweitrangig ist und möglicherweise sogar ganz gut getan hätte.
Nun könnte man sagen, ja, im Winter ist die Entwicklung wohl eher weniger interessant. Wie sieht es denn im Sommer aus, wo laut Encyclopaedia Brittanica heute mit bis zu 20°C zu rechnen ist? Müssen wir hier Angst vor einer „arktischen Turboerwärmung“ haben? Die AWI-Pressemitteilung erklärt etwas verklausuliert, dass Rekonstruktionen der Sommertemperaturen eine gegenteilige Entwicklung anzeigen: In den letzten Jahrtausenden ist es in Sibirien immer kälter geworden:
Die neuen Daten sind die ersten eindeutig datierten Wintertemperaturdaten aus der sibirischen Permafrostregion und zeigen einen klaren Trend: „In den zurückliegenden 7000 Jahren sind die Winter im Lena-Delta kontinuierlich wärmer geworden – eine Entwicklung, die wir so bisher aus kaum einem anderen arktischen Klimaarchiv kennen“, sagt Hanno Meyer. Denn: „Bisher wurden vor allem fossile Pollen, Kieselalgen oder Baumringe aus der Arktis genutzt, um das Klima der Vergangenheit zu rekonstruieren. Sie aber speichern vor allem Temperaturinformationen aus dem Sommer, wenn die Pflanzen wachsen und blühen. Die Eiskeile stellen eines der wenigen Archive dar, in denen reine Winterdaten gespeichert werden“, erklärt der Permafrost-Experte. Mit den neuen Daten schließen die Wissenschaftler zudem eine wichtige Lücke: „Die meisten Klimamodelle zeigen für die zurückliegenden 7000 Jahre in der Arktis eine langfristige Abkühlung im Sommer sowie eine langfristige Erwärmung im Winter an. Für letztere aber gab es bisher keine Temperaturdaten, eben weil die meisten Klimaarchive hauptsächlich Sommerinformationen speichern. Jetzt können wir zum ersten Mal zeigen, dass Eiskeile ähnliche Winterinformationen enthalten wie sie von den Klimamodellen simuliert werden“, so AWI-Modellierer und Ko-Autor Dr. Thomas Laepple.
Noch klarer wird es in der offiziellen Kurzfassung der Arbeit (Auszug):
Relative to the past 2,000 years1, 2, the Arctic region has warmed significantly over the past few decades. However, the evolution of Arctic temperatures during the rest of the Holocene is less clear. Proxy reconstructions, suggest a long-term cooling trend throughout the mid- to late Holocene3, 4, 5, whereas climate model simulations show only minor changes or even warming6, 7,8.
Bei den genannten Literaturzitate 3 bis 5 handelt es sich um:
3. Marcott, S. A., Shakun, J. D., Clark, P. U. & Mix, A. C. A reconstruction of regional and global temperature for the past 11,300 years. Science 339, 1198_1201 (2013).
4. Vinther, B. M. et al. Holocene thinning of the Greenland ice sheet. Nature 461, 385_388 (2009).
5. Wanner, H. et al. Mid- to Late Holocene climate change: An overview. Quat. Sci. Rev. 27, 1791_1828 (2008).
Gerne hätte an dieser Stelle auch einer Arbeit einer internationalen Forschergruppe um Benoit Lecavalier von der University of Ottawa aus dem März 2013 in den Quaternary Science Reviews erwähnt werden können. Die Forscher fanden, dass sich Grönland in den letzten 8000 Jahren um etwa 2,5°C abgekühlt hat (siehe „Ein Thema das die Medien meiden wie der Teufel das Weihwasser: Vor 5000 Jahren war es in Grönland zwei bis drei Grad wärmer als heute”).
Die Sommer wurden in den letzten 7000 Jahren kälter und die Winter wärmer. So kann man den aktuellen Erkenntnisstand zusammenfassen. Ursache für diesen Langzeittrend sind die Milankovic-Zyklen, die auf Veränderungen der Erdbahnparameter zurückzuführen sind. Dies sind langfristige Zyklen im Bereich von 20.000 bis 100.000 Jahre, die für die aktuelle Klimadiskussion keine große Rolle spielen. Sie sind auch die Ursache für das sogenannte mittelholozäne Klimaoptimum, als die globalen Temperaturen vor 7000 Jahren um zwei Grad höher lagen als heute.
Während die Hauptstory, nämlich die Erwärmung der sibirischen Winter in den letzten Jahrtausenden, durchaus plausibel erscheint, muss man sich doch wundern, weshalb die zeitgleiche Sommer-Abkühlung nicht besser in der AWI-Pressemitteilung herausgearbeitet wurde. Letztendlich geht es neben den Jahreszeiten doch auch darum, wie sich der Jahresmittelwert entwickelt hat. Dazu kein Kommentar vom AWI.
Zu klären wäre auch, weshalb die AWI-Presseabteilung nicht schon einige Monate zuvor aktiv geworden ist, als ein ebenfalls von Hanno Meyer angeführtes Forscherteam im September 2014 im Fachblatt Global and Planetary Change eine Studie zu Kamschatka publizierte. Die Forscher rekonstruierten die Temperaturen in der Region für die vergangenen 5000 Jahren und fanden interessanterweise einen langfristigen Abkühlungstrend. Über lange Zeiten war Kamschatka während der letzten Jahrtausende offenbar wärmer als heute, eine überraschende Erkenntnis (eine genaue Besprechung der Arbeit gibt es auf The Hockey Schtick). Das wäre eine schöne Schlagzeile geworden:
Kamschatka hat sich in den letzten 5000 Jahren abgekühlt.
Aber offenbar war dem AWI diese Schlagzeile zu heiß. Beim weiteren Stöbern wird man das böse Gefühl nicht los, dass man in der AWI-Pressestelle bewusst Studien ausspart, die nicht so recht in die Klimakatastrophengeschichte zu passen scheinen. Bereits im Mai 2013 waren erste Ergebnisse zum Kamschatka-Projekt in den Quaternary Science Reviews publiziert worden, zu denen die Öffentlichkeitsabteilung des AWI keinen Mucks machte (siehe unseren Blogbeitrag „Überraschende Forschungsergebnisse des AWI aus dem subarktischen Kamtschatka: In den letzten 4500 Jahren war es bis zu 4 Grad wärmer als heute”). Die unheimliche Serie setzte sich im September 2013 fort, als im Fachmagazin Palaeogeography, Palaeoclimatology, Palaeoecology eine AWI-Studie eines internationalen Forscherteams um Juliane Klemm erschien. Auch diese Forschergruppe hatte Unerhörtes herausgefunden, etwas was man auf keinen Fall mit der Presse teilen wollte (siehe unseren Blogbeitrag: „Neue AWI-Studie: Heutige Sommertemperaturen in der sibirischen Arktis unterscheiden sich kaum von denen der letzten Jahrtausende”).
Was hat nun die Klimakatastrophe mit all dem zu tun?
Zurück zum aktuellen Paper über das Lena-Delta. Die Erwärmung der Wintertemperaturen in den letzten 7000 Jahre mag interessant sein, ist aber lediglich die Hinleitung zur eigentlichen „Pointe“ der Studie, nämlich, dass der menschengemachte Klimawandel der letzten 150 Jahre die Wintertemperaturen im Studiengebiet nach oben gejagt hätte. In der AWI-Pressemitteilung liest sich das so: